Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt
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Träumen
Nach dem Vorangegangenen fällt es schwer, plausibel zu erklären, warum sich Morpheus persönlich Pauls Träumen annahm, denn die einzige wahrheitsgetreue Erklärung mutet geradezu phantastisch an. Dessen ungeachtet mag sie umso glaubhafter erscheinen, führt man sich vor Augen, dass es sich bei den beteiligten Wesen nicht um Menschen handelt. Kurz und gut: seit Anbeginn der Zeit ging von Luna eine überaus starke Anziehungskraft auf Morpheus aus. Unter den Olympiern war es ein offenes Geheimnis, dass der Gott der Träume bis über beide Ohren hinaus mondsüchtig war. Als er schließlich Luna vor aller Zeit an Pauls Seite wahrnahm, konnte ihn nichts davon abbringen, zur einzigen Lichtgestalt seiner Nächte zu eilen, bevor ihre vorübergehende Körperlichkeit zwischen den Strahlen der Sonne verschwinden würde.
Paul schloss seine Augen in den frühen Nachmittagsstunden eines hellen und warmen Sommertages. Ohne es bemerkt zu haben, war er am Ende seiner Kräfte angelangt. Die Erwartung von Tanias Stimme, als das Telefon läutete und er den Hörer nicht abzunehmen vermochte, raubte ihm noch den letzten Rest Energie, dessen schieres Vorhandensein einem Wunder glich. Als er anstatt Tania Stefan über den Anrufbeantworter vernahm, hätte jeder Zeuge dieser Szene beobachten können, wie Paul zusammensackte. Er starrte noch lange auf das Telefon und konnte seine enttäuschten und immer leerer werdenden Blicke nicht davon losreißen. Ihm schien, als wäre in ihm eine Blase geplatzt, die, eben noch mit Hoffnung gefüllt, ihren Inhalt sinnlos verspritzt hatte. Das kleine bisschen Hoffnung, das ihm geblieben war und ihm sagte, noch war nichts verloren, dieses kleine bisschen Hoffnung, an das er sich so sehr geklammert hatte, war unwiderruflich und unnütz vergeudet. Paul spürte es genau, denn er spürte nichts!
Für einen kurzen Augenblick versagten ihm die Sinne. Durch die Blockade seiner Wahrnehmung der Welt entrückt, sah und lauschte er in eine ihm bisher unbekannte Leere (ja!, schon wieder eine Leere, schon wieder eine andere Leere, unterschieden von all ihren Vorgängerinnen; ist es nicht erstaunlich, wie viele Arten der Leere es zu geben scheint?), die weder angenehm, noch unangenehm war, von der er allerdings annahm, dass sie sich schon bald mit was auch immer füllen würde; sicherlich wäre das nichts Angenehmes, dachte er für einen Moment.
Es dauerte nicht lange und Luna betrat die Szene. Es störte sie nicht, dass die Nacht noch auf sich warten ließ und somit ihre Zeit noch gar nicht gekommen war. Für Paul machte sie ein Ausnahme und wurde einmal mehr zum Tagwandler. Er tat ihr einfach leid, wie er so kümmerlich auf dem Boden saß, in sich zurückgezogen und nicht bemerkend, dass sie bei ihm war. Sie schloss die Fenster und zog die Vorhänge zu. Weil es dadurch aber nicht dunkel werden wollte, ließ sie ihrer rechten Hand eine ganz und gar unirdische Finsternis entströmen, vor der auch der letzte Lichtstrahl floh.
Paul hatte längst seine Augen geschlossen. Als es vollkommen dunkel war, kroch Lunas geballt Müdigkeit nie geschlafener Nächte in seine Glieder und machte es sich dort behaglich. Paul fühlte sich schwer wie ein riesiger glatter Stein, fragte jedoch nicht nach dem Grund, dachte ebenso nicht darüber nach, wie es sein konnte, dass . . ., denn Denken war nicht mehr möglich. Außerdem war er nicht in der Lage, sich über das viel zu tiefe Schwarz zu wundern, das auf wundersame Weise durch seine geschlossenen Augen drang.
Einen Moment noch blieb Luna an seiner Seite. Als er eingeschlafen war legte sie ihn in auf die Couch, küsste ihn sanft auf die Stirn und verließ das Zimmer. Nach geraumer Zeit erschien Morpheus. Zwar war Luna schon verschwunden, doch vermutete er, dass sie später noch einmal nach Paul sehen werde. Und in der Zwischenzeit?
Morpheus sah den Schlafenden an und wartete auf die Traumphase, doch lange geschah nichts. Der Gott setzte sich Paul gegenüber in einen Sessel, sodass er freien Blick auf ihn hatte. Er bemerkte, dass dieser kaum atmete und sich nicht rührte; es schien, als sei er dem Tode näher als dem Traum. Morpheus scheute sich jedoch, in irgendeiner Form einzugreifen. Er machte sich ein Bild über Pauls Situation, über den Zustand seines Körpers, seiner Seele, seines Verstandes und seiner Gefühle. Es gefiel ihm nicht wirklich, was er sah, doch das galt für vieles, was er in Jahrtausenden auf der Erde gesehen hatte, und getrost konnte er sich sagen, dass es nicht wenigen Menschen wesentlich schlechter ging als Paul. Dennoch war er bei ihm und nirgendwo anders. Und nun, da er einmal hier war, wollte er wenigstens sehen, wer von seinen Helfern sich Pauls Träumen annahm.
Morpheus wartete Stunde um Stunde. Die Nacht hatte den Tag abgelöst. Pauls Schlaf dauerte ohne Unterbrechung an und befand sich längst in der richtigen Tiefe, die Morpheus und seine Gehilfen benötigten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Doch Paul träumte nicht. Allem Anschein nach kümmerte sich niemand um ihn.
Nachdem Paul einige Stunden traumlos geschlafen und die Uhr Mitternacht bereits überschritten hatte, begab sich Morpheus einer Laune nachgebend zu dem Schlafenden und flüsterte ihm ins Ohr. In Pauls Unterbewusstsein angekommen, verwandelten sich die Worte in Bilder und wurden zu Szenen. Paul träumte, während Morpheus an seiner Seite saß und beobachtete, welche Wirkung seine Einflüsterungen hervorriefen.
Als der Gott bemerkte, welch merkwürdiger Traum sich entwickelte, wurde er unzufrieden. Es ging ihm keineswegs darum, Paul etwas Angenehmes erleben zu lassen, vielmehr war er über seine Arbeit enttäuscht und fühlte sich bemüßigt, es besser zu machen, sich zu genügen. Denn die Worte, die er Paul in den Schlaf geschickt hatte, hatten nichts als Chaos ausgelöst. Zwar handelte es sich um durchaus positiv zu verstehende Begriffe wie Sonne, Blumen, Lachen, Schönheit und dergleichen mehr, doch wusste Pauls Unterbewusstsein nichts Rechtes mit ihnen anzufangen. Kaum waren sie dort angelangt, riefen sie allesamt gegenteilige Assoziationen hervor. Die Sonne erzeugte eiternde Blasen auf der Haut, Blumen verwelkten oder wurden von schweren Stiefeln zertrampelt, ein lachender Mund verhöhnte etwas unsagbar Schönes, das sich daraufhin schreiend und weinend in eine abscheuliche Fratze verwandelte, der selbst die Sonne den Rücken kehrte.
Morpheus wunderte sich. Hatte tatsächlich er das ausgelöst? Warum war alles so verworren, so unzusammenhängend? Irgendetwas stimmte mit Paul nicht, war er sicher, doch das ging ihn nichts an. Wenigstens wollte er aber dafür sorgen, dass Paul in dieser Nacht einen Traum träumte, der eines göttlichen Schöpfers würdig war.
Zu diesem Zweck verbannte er alle Gedanken aus Pauls Unterbewusstsein. Er schuf eine absolute Leere (in diesem Falle sozusagen eine Art Arbeitsplattform), in der er erzeugen konnte, was immer er wollte. Nichts blieb im Kopf des Schlafenden zurück, was sein Werk hätte stören können. In dieses Nichts hinein projizierte er absolute Dunkelheit und Stille. Er tat das langsam und behutsam, sodass es den Schlafenden nicht überfiel und erneut Resultate zeitigte, die er verhindern wollte. Als er sah, dass Pauls Schlaf ruhiger wurde, er also in der gewünschten Weise reagierte, fügte Morpheus der Dunkelheit und der Stille eine entscheidende Eigenschaft hinzu: Wärme! Der Träumende empfand eine wohlige, angenehme Wärme, die seinen Traum schon bald vollkommen ausfüllte. Nun war es für Morpheus an der Zeit, sich zu verwandeln, die Traumtür zu öffnen und einzutreten.
Der Gott wurde zu einem Augenpaar, das durch Dunkelheit, Stille und Wärme wanderte und Paul zeigte, was er sehen sollte. Anfangs sah er natürlich rein gar nichts, bemerkte nur eine zaghafte, leichte, vorsichtige Bewegung, die suggerierte, dass er lief. Trotz der Finsternis ging er festen Schrittes voran; keine Unebenheit säumte den Weg, kein Stein, über den er stolperte. Er wusste nicht, wohin der Weg ihn führte. Doch er vertraute den Füßen, die ihn vorwärts trugen, über die er aber nicht sagen konnte, sie wären die seinen, da er sie weder sah noch spürte.
Mit jedem Schritt wuchs eine namenlose Erwartung in Paul. Er fühlte, dass er sich auf etwas