Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt

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Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt

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hatte einzig das Gitter im Sinn, durch das sein Weg führte; dennoch wurde ihm bange, er wollte nicht schon wieder allein zurückbleiben.

      Sollte er sie nicht rufen und bitten, ihn mitzunehmen? Ja! Das sollte er und er wusste es. Stattdessen beobachtete er die Maler nur, die bereits ihre Werkzeuge verstaut hatten, auf einer der untersten Stufen der Treppe stehend, sodass kaum sein Kopf zu sehen war.

      Jetzt brechen sie auf! Keine Zeit zu verlieren! Noch schnell ein letzter Versuch, das Gitter zu öffnen! Schaffte er es nicht, würde er zu ihnen gehen.

      Mit einem Satz nach unten gesprungen und mit aller Kraft am Gitter gerüttelt – es bewegte sich nicht! Bestimmt waren die Maler schon auf und davon. Er sprang drei, vier Stufen hinauf, spähte in die Halle, niemand mehr zu sehen, nur noch die Tür fiel langsam ins Schloss. Hinterherrennen musste er ihnen! Doch er sprang wiederum nach unten. Wieder riss er wie blöde am Gitter; es blieb seine bewegungslose Obsession; jetzt war alles klar!: rütteln ziehen reißen – dort, wo etwas vor ihm verschlossen war. Da! Ein Geräusch in der Halle. Schnell nach oben gesprungen. In die Halle gespäht. Ein Maler! Er holt das Radio! Zeit gewonnen, Zeit gewonnen! Schnell zurück nach unten! Mach langsam Maler! Nur ein Versuch, ein letzter, der Letzte. Dann komme ich und gehe mit euch, nur mit euch, wohin ihr wollt.

      Erwachen

      Der Schlaf eines Menschen kann beeinflusst durch verschiedene Umstände so tief und fest sein, dass mitunter Tage vergehen – in besonderen Ausnahmefällen sogar Monate oder Jahre –, bevor er wieder erwacht. Auch gibt es vollkommen verschiedene Arten von Schlaf, deren Bandbreite sich vom gewöhnlichen Schlaf bis zu einem speziellen Zustand erstreckt, der am treffendsten mit der Bezeichnung Nicht-Wach-Sein umschrieben werden kann. Kein Sonnenstrahl, der an der Nase eines Menschen kitzeln mag, der einen derartigen Schlaf schläft, vermag diesen in den Wachzustand zurückzuführen. Und so machtlos die Sonne in diesen zugegebenermaßen recht seltenen Fällen selbst am allerschönsten und lichtdurchflutetsten Sommertag ist, dessen Helligkeit trotz allem nicht genügen wird, das wirkliche Erwachen-Wachsein durchzusetzen, damit ein jeder den Glanz und die Pracht des Tages genießen darf, so machtlos ist sie auch im gegenteiligen Fall, wenn es einem Menschenkind ankommt, noch vor aller Zeit die verschlafenen Äuglein zu öffnen, zu denken, nun aber einmal die Sonne gehörig zu foppen und nicht zu warten, bis sie ihre Strahlen zur Erde hinabwirft, der vielmehr den eigenen Schlaf mutig abschüttelt, obschon die Müdigkeit sich festklammert und mit Nachdruck ihr Recht fordert.

      Tania steht am Fenster des Zimmers, in dem sie seit einigen Tagen lebt. Nebenan befindet sich das Zimmer ihrer Cousine Susanne und außerdem leben mit ihnen zwei jungen Männer in der Wohnung; sie alle sind Studenten.

      Sie steht ungewöhnlich lange am Fenster und beobachtet das langsame Sterben der Nacht. Ruhig und gelassen sieht sie zu, wie die Nacht ihre Schwärze ausblutend nach Westen fließt. Da kann man nichts machen!, denkt sie und ist froh, dass es Dinge gibt, die einfach passieren, die kein Mensch ändern kann, für die folglich niemand verantwortlich ist und um derentwillen niemand befürchten muss, weder Rechenschaft ablegen zu müssen, noch ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

      Diesen und ähnlichen Gedanken folgend blickt Tania noch immer zum Fenster hinaus. Langsam erhebt sich am Horizont die Dämmerung, ohne dass der erste Sonnenstrahl auch nur zu ahnen wäre. Sie findet es schön, in die Nacht zu sehen und zu wissen, dass es schon gar nicht mehr wirklich Nacht ist; sie ist fasziniert von diesem Zustand, für den sie keinen Namen findet, von diesem unheimlich zerbrechlichen Moment, in dem Nacht und Tag zu ungleichen Teilen vereint sind, die sich ständig verändern. Sie liebt diese Augenblicke des Wandels, sie fühlt sich ihnen merkwürdig verbunden, sogar verwandt. Ach!, wie gerne wäre sie nichts anderes als Wandel und Veränderung! Alles und Nichts sein zu können, wünscht sie sich, und zwar gleichzeitig, nur nichts Festes, Statisches, Beschreibbares . . . ; sie würde nur die Augen schließen müssen, um beim Öffnen zu einem Wesen geworden zu sein, dass sie sich gerade vorgestellt hat.

      Angenehm warm war die frühe Morgenstunde ungeachtet des erbitterten Kampfes zwischen Licht und Dunkel. Eine leichte Hose, ein T-Shirt, eine dünne Jacke und Stoffschuhe genügten ihr, um sich so früh in die Schlacht zu werfen. Das Sterben der Nacht störte sie nicht, ebenso wie ihr die Geburtsschmerzen des in den Wehen liegenden Tages keine Ehrfurcht einflößten. Zum Himmel emporblickend erkannte sie die Kampflinie dort, wo sich am Horizont in unruhigen Wellen sanft die Dämmerung ins Schwarz schob. Sie war froh, dass sie daran nicht beteiligt war, dass all das nichts mit ihr zu tun hatte. In diesem Augenblick fühlte sie sich frei. Keine Kämpfe mussten austragen werden. Diesmal wäre sie nur Beobachterin.

      Mit wohltuender Frische füllten sich sofort ihre Lungen, als sie auf die Straße trat. Eine Prise Freiheit ströme mit jedem Atemzug in sie hinein, dachte sie und meinte, dass sie die Freiheit in der Tat schmecken könne. Doch dem nicht genug atmete sie die Freiheit nicht ungenutzt wieder aus, vielmehr gelangte sie auf dem selben Weg wie der Sauerstoff in die Blutbahn und von dort in jede Zelle ihres Körpers. So stand sie in dieser Herrgottsfrühe, durchströmt von Freiheit, mitten auf dem Gehweg vor dem Haus, in dem sie nun lebte, und kämpfte gegen einen leichten Schwindel, für den die eingeatmete Freiheit verantwortlich war, weil sie verhinderte, dass genügend Sauerstoff in ihr Blut gelangte. Es ging ihr wie allen Menschen, die vom süßen Rausch der Freiheit übermannt werden. Ein wenig taumeln sie, jedoch nur innerlich, sie fühlen sich unsagbar leicht, doch stehen auf festem Boden, sie wollen nichts anderes als Tanzen und genießen diese seltenen Momente am liebsten allein bevor sie ihr Glück mit der ganzen Welt teilen.

      Unschlüssig vor ihrem neuen Zuhause stehend, fragte sie sich, was sie eigentlich vorhabe. Erst da bemerkte sie, dass sie das nicht wusste, ebenso wenig wie sie hätte erklären können, warum sie so früh am Tage bereits auf den Beinen war. Doch um nicht schon wieder ins Haus zurückkehren zu müssen, beschloss sie, einen kleinen Spaziergang zu machen.

      Tania lief ziellos durch wohlbekannte Straßen. Sie wusste nicht, woran es lag, ob an ihr, ob an der Dämmerung, oder ob an der mit Freiheit gefüllten Luft, dass es ihr vorkam, als würde sie sich in einer anderen Stadt befinden. Eine Art Zwillingsstadt müsse es sein, wie sie meinte, denn natürlich wanderte sie durch die Stadt, die sie kannte, die so war, wie sie immer war. Identisch mit gespeicherten Bildern in ihrem Gedächtnis waren die Gebäude, die Straßen, die Plätze, der Park. Das, was ihr so anders vorkam, war dieses unerklärbare Gefühl, das auf sie warf ein Jetzt, ein Frei, ein Ich, ein Neu, von dem man unweigerlich überfallen wird, wenn man sich zum ersten Mal in einer wunderschönen und berühmten Stadt befindet, das sich jedoch ebenso mühelos nichtsahnender Menschen zu bemächtigen weiß, in deren Leben gerade etwas überaus Bedeutendes vor sich geht und sie vorübergehend immunisiert gegenüber Altbekanntem. Oder anders ausgedrückt: oftmals ist das Verhältnis Mensch und Stadt von Gefühlen geprägt, von Stimmungen, Launen und Eindrücken; auf ihre Weise fühlt sich jede Stadt anders an und genau das ist es, was Tania gerade erlebt: eine Stadterfahrung ihr unbekannter Art. Dieses Gefühl also war es, das es ihr erlaubte, ihre Stadt durch die staunenden Augen eines Menschen zu sehen, der sie zum ersten Mal erblickt.

      Tania lernte ihre Heimatstadt noch einmal kennen. Es tat ihr gut, all die bekannten Häuser, Geschäfte, Plätze und Straßen in Ruhe zu betrachten und in ihren Gedanken zu begrüßen. Doch als sie an ihrem alten Kindergarten vorbeikam, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, konnte sie ihn auch an diesem Morgen nicht erblicken. Er war schlicht und ergreifend weg, wie vom Erdboden verschluckt. An der Stelle, wo er einst gestanden hatte, befand sich ein großer, mit vielen verschiedenen Geräten sowie einem Sandkasten ausgestatteter Spielplatz. Kein Kindergarten mehr . . ., dachte sie und es kam ihr so vor, als habe man nachträglich ihre Kindergartenzeit ausgelöscht. Die Erinnerungen an ihre Kindheit waren untrennbar mit dem Gebäude verbunden, in das sie eines längst vergangenen Tages von ihrer Mutter gebracht worden war. Doch nun existierte es nicht mehr. Seit wann eigentlich, und warum? Sollte sie das als eine Art Entschuldigung verstehen? Eine Wiedergutmachung dafür, dass es für die Mutter

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