Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt
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Plötzlich verlangsamte der Zug seine Fahrt und kam abrupt zum Stehen. Die Tür öffnete sich und die Wartenden in ihrer Nähe stürzten hinaus. Kaum einer von ihnen kam wieder auf die Beine, weil sie von den Nachrückenden einfach überrannt wurden. Obwohl Paul nicht wusste, wo er sich befand – das war nicht die Station, die er erwartet hatte –, lief er eilig zum Ausstieg, trat ebenso rücksichtslos auf die Liegenden und verließ den Wagon, sagte ihm doch eine zwingende Eingebung, dass hier Endstation war. Als er ausgestiegen war, fuhr der Zug sofort weiter und war binnen Sekunden in einem nahegelegenen Wald verschwunden.
Ratlos stand Paul auf dem Bahnsteig und schaute sich aufmerksam um. Nur noch eine Handvoll der vielen Menschen, die wie er den Zug verlassen hatten, war zu sehen. Von den anderen fehlte jede Spur, sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Es gab weder ein Bahnhofsgebäude noch einen Bahnsteig, der diese Bezeichnung verdient hätte, sogar der obligatorische Fahrkartenautomat, der höchstwahrscheinlich defekt gewesen wäre, ließ sich nirgends finden; hier gab es absolut nichts, was einen haltenden Zug und aussteigende Menschen hätte rechtfertigen können. Ein paar Häuser, die anscheinend ein kleines Dorf bildeten, entdeckte er in einiger Entfernung hinter dem Gleis. Sie kamen ihm unwirklich vor. Seiner Meinung nach gehörten sie nicht hierher. Er kannte die Namen der Orte, die die Stadt umgaben, und ging sie der Reihe nach durch. Dieses kleine Dörfchen war ihm unbekannt.
Was sollte er tun, überlegte er eine Weile und meinte, dass es am vernünftigsten wäre, auf den nächsten Zug zu warten, um in die Stadt zurückzufahren. Er hielt Ausschau nach einem Fahrplan, konnte jedoch keinen entdecken. Bei genauerer Betrachtung wies nichts darauf hin, dass hier jemals wieder mit einem Zug gerechnet werden konnte, wie ihm bewusst wurde.
Paul befand sich im Nirgendwo, in der Nähe eines Ortes, den er nicht kannte, in einer Landschaft, die ihm fremd war, und selbst die wenigen Menschen, die noch hier waren, machten ebenso wenig wie er den Eindruck, als hätten sie einen Grund dafür. Unschlüssig standen sie entweder an Ort und Stelle, oder taten zaghaft ein paar Schritte irgendwohin, um schnell wieder umzukehren. Paul musste nicht lange überlegen, um zu erkennen, dass mit ihnen nichts anzufangen war.
Er wurde ungeduldig, wollte nicht länger herumstehen und unnütz Zeit vergeuden. In seinen Augen lag es nahe, im Dorf nach einer Bushaltestelle zu suchen, um mit dem Bus in die Stadt zurückzugelangen; sollte es keine Haltestelle geben oder er könne keine finden, bestand immer noch die Möglichkeit, den Weg zu Fuß zurücklegen. Er war fest davon überzeugt, dass er vom Dorf aus weiter käme und sicher würde er auch Bewohnern begegnen, die ihm weiterhelfen konnten.
Entschlossen marschierte Paul los und betrachtete die Menschen, die wie Vergessene-Abgestellte noch immer an Ort und Stelle standen, wo sie der Zug ausgespuckt hatte, und teilnahmslos vor sich hin starrten. Nach einigen Sekunden sah er zwei Männer auf sich zukommen, die sich angeregt unterhielten. Sie erweckten den Anschein, als hätten sie ein Ziel und Paul kam unvermittelt der Gedanke, sie anzusprechen und zu fragen, ob er mit ihnen gehen dürfe.
Ach, wie gut es doch tat, die zwei Unbekannten zu sehen, die allein schon deshalb diesem Ort so etwas wie Normalität verliehen, weil sie miteinander sprachen. Denn obwohl Paul nicht allein hier war, fühlte er sich verlassen.
Endlich waren sie ihm soweit entgegengekommen, dass er sie erkennen konnte. Überrascht stellte er fest, dass es Kommilitonen waren, mit denen er nicht nur einige Veranstaltungen besucht hatte, sondern auch einige Kneipen. Ihre pure Anwesenheit genügte, um ihm das Gefühl zu geben, nicht fehl am Platze zu sein. Aber was hatte sie hierher geführt, fragte er sich, warum entfernten sie sich vom Dorf und von diesem merkwürdigen Bahnhof? Wo wollten sie hin? Wäre ihnen seine Gesellschaft gar unlieb?
Schon waren sie nicht mehr weit voneinander entfernt. Paul lächelte ihnen zu, als Zeichen, dass er sie erkannt habe und dass es ihn freue, sie zu sehen. Auch seine Kommilitonen erkannten ihn, lächelten ebenso und grüßten, unterbrachen ihre Unterhaltung jedoch nicht, sondern gingen eilig vorüber, ohne ihn weiter zu beachten. Auch Paul verlangsamte seine Schritte nicht, sah sich nicht nach ihnen um. Bestimmt wollten sie ohnehin nicht in die Stadt zurück, sagte er sich, und war froh, dass er nicht durch smaltalk aufgehalten wurde, aber auch betrübt, weil er nicht in den Genuss ihrer vertrauten Gesellschaft kam.
Unmittelbar danach bemerkte Paul, der parallel zum Gleis lief, dass dieses einige Meter vor ihm von einem anderen gekreuzt wurde. Von seiner Position aus entstand der Eindruck, als liefen die Gleise in einem Winkel von 90° aufeinander zu. Das musste ein Irrtum, meinte er, denn eine Überschneidung im rechten Winkel kam für eine Bahnstrecke nicht in Frage! Sicherlich täuschten ihn seine Augen gerade. Das Trugbild würde sich auflösen, sobald er nah genug herangekommen war und deutlich sehen könne, was er augenblicklich nicht richtig erfassen konnte. Doch der Irrtum löste sich nicht auf, sondern bestätigte sich vielmehr als unwiderrufliche Gewissheit: die Gleise begegneten sich im rechten Winkel! Paul blieb stehen und grübelte, ob es einem Zug überhaupt gelingen könnte, an solch einer Kreuzung abzubiegen, falls das der Sinn dieser Konstruktion sein sollte. Es war unmöglich, meinte er, weil er keinerlei versteckte Hilfsmittel entdecken konnte, die ein solches Manöver möglich gemacht hätten.
Während er die Schienenstränge verfolgte soweit es ihm seine Augen erlaubten, fragte er sich, wer so einen Unsinn gebaut hatte und vor allem warum. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah. Die Gleise trafen im rechten Winkel aufeinander, basta! Aber wodurch ließ sich das erklären? Paul blickte in alle Richtungen, um festzustellen, ob sich ein Zug näherte. Da er keinen sehen konnte, stieg er auf die Gleise und stellte sich in die Mitte des Kreuzes, das von ihnen gebildet wurde. Merkwürdig, dachte er. Die Schienen verliefen bis zum Horizont auf drei Seiten kerzengerade, auf der vierten verschwanden sie im Wald. Auch hier war nicht einmal die kleinste Biegung zu sehen. Wer nur hatte diese kerzengeraden Metallfäden auf die Erde gelegt, fragte er sich ratlos, erstaunt und vollends verwirrt, und betrachtete noch immer sich in alle vier Richtungen wendend die Gleise.
Zu einer Geraden werden sie in der Ferne, dort, wo das Auge sie allmählich verliert. Und wenn sie Geraden, Striche und Linien werden, dann sind sie es schon hier. Ich kann es nur nicht sehen, weil ich genau auf dem Kreuz stehe, das in Wirklichkeit ein Punkt ist.
Als es nichts mehr zu sehen und zu entdecken, doch umso mehr zu verstehen gab, setzte Paul, alle Gedanken beiseite schiebend, seinen Weg fort. Nun waren es nur noch wenige Schritte, die ihm vom Dorf trennten. Er lief an ein paar spielenden Kindern vorbei, die wie aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht waren und denen er einen Ball zurückgab, der ihn fast getroffen hätte. Sie blieben stehen und musterten neugierig den Fremdling, gerade so, als hätten sie noch nie in ihrem Leben einen Menschen gesehen. Erst als er das Dorf erreicht hatte, spielten sie lärmend weiter.
Das Dorf war merkwürdig! Im Gegensatz zu den Schienen entdeckte sich ihm der Ort so verwinkelt, wie nur irgend möglich. Zwei, allerhöchstens drei Häuser standen nebeneinander, bevor die nächste Biegung den Blick auf das folgende Haus entweder versperrte oder freigab, je nachdem, wie die Kurve verlief. Die Bauten waren allesamt recht klein, nicht eines konnte Paul entdecken, dass über ein Obergeschoss verfügte. Vielleicht waren die Erdgeschosse im Boden versunken, stellte er sich vor, und die Türen, die er sehen konnte, waren erst im Nachhinein in der oberen Etage eingebaut worden. Ein wenig belustigte ihn dieser Gedanke, der sich jedoch rasch verflüchtigte, als ihm klar wurde, dass er bisher weder eine Menschenseele gesehen, noch einen Laut vernommen hatte.
In jedem Dorf gibt es Hunde, Katzen, Schweine, Hühner und was weiß ich, was noch alles für Viecher auf dem Land gehalten werden, dachte Paul, während er vergebens nach Anzeichen für Leben suchte. Nicht einmal Fliegen, Bienen oder andere Insekten flogen durch die