Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt
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Der Anblick der Leichen entsetzte nicht nur diejenigen, denen die schreckliche Entdeckung vorbehalten blieb, sondern auch die erfahrensten und abgebrühtesten Ärzte, die herbeigeeilten Geistlichen und alle anderen, die mit den Toten in Berührung kamen. Die Gesichter der Dahingerafften waren jeglicher Farbe beraubt, blutleer, verzerrt zu entsetzlichen Grimassen, zu Totenmasken im wahrsten Sinne des Wortes. Die unsagbaren Schrecken der Nacht hatten sich tief in ihre versteinerten Züge gefressen. Nichts anderes als eine grauenhafte Kombination aus Schreien, Winseln, purer Angst, Panik, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung spiegelten sie wieder. Die Augen der Toten: unnatürlich weit aufgerissen, nur noch weiß, nur noch weiß, und in ihren angsterfüllten Pupillen gebannt, gefangen, verschlossen das Grauen und der Terror der vergangenen Nacht – abstrakte und schon bald vergehende Zeugnisse des absolut Bösen. Die Körper: verkrampft, gewunden, verrenkt, stocksteif, starr und spröde. Nicht wenige Ärzte vertraten die Meinung, die Leichenstarre all dieser Unglücklichen müsse unmittelbar nach ihrem Tod eingetreten sein. Die Hinterbliebenen sahen sich vor ein weiteres Problem gestellt, denn an eine Aufbahrung oder gar an eine Bestattung im Sarg war nicht zu denken, wollte man den Verstorbenen nicht entweder alle Knochen brechen oder einzelne Gliedmaßen abtrennen. Da man jedoch sah, wie furchtbar ihr Todeskampf gewesen war, verzichtete man darauf.
Als Todesursache diagnostizierten die Ärzte in seltener Übereinstimmung Herzstillstand, ohne jedoch davon überzeugt zu sein. Überhaupt keine Antwort fand man auf die Frage, wie in einer einzigen Nacht Abertausende gesunder Menschen auf dem ganzen Erdenrund sterben konnten. Nicht wenige Mediziner vermuteten einen Zusammenhang, der dieses grauenhafte Phänomen zu begründen vermochte. Doch das Unvermögen, eine plausible Erklärung zu finden, beschwor einen weiteren Alptraum herauf.
In Panik geraten vermuteten die Menschen hinter den Ereignissen nichts weniger als das Werk des Teufels. (Angesichts solch einer Katastrophe kannte ihre Phantasie keine Grenzen.) Hitzig spekulierten sie auch über mögliche Vergiftungen aller damals bekannten Arten: über die Vergiftung von Wasser, Luft oder Lebensmitteln. Man zog eine unbekannte Epidemie in Erwägung und tötete alle in Frage kommenden Krankheitsüberträger. In einer nahezu infernalischen Raserei wurden alle Ratten, Mäuse und anderes Ungeziefer vernichtet, dem man habhaft werden konnte, aber auch streunende Katzen und Hunde. Man suchte nach Hexen und Hexer, fand einige höchst verdächtige Personen, sich plötzlich merkwürdig verhaltende Kinder (sie standen durch den Verlust ihrer Angehörigen zuhauf unter Schock!), einige Katzen mit satanischen Zeichen im Fell, ein Pferd, dem anscheinend Hörner wuchsen, drei Kühe, die schwarze Milch gaben und noch unzählige Kuriositäten mehr, die zuvor bisweilen der ganze Stolz ihrer Besitzer gewesen waren. Alle wurden verbrannt. Die Scheiterhaufen vor den Städten loderten Tage, in manchen Orten sogar Wochen.
Man glaubte sich und sein Handeln bestätigt, da in den Nächten der folgenden Tage Wochen Monate lediglich die Alten, die Kranken, die Trinker, die Unvorsichtigen und die Selbstmörder starben. Beinahe schien es, als sei nichts gewesen, nur der Verlust so vieler Menschen und die rasante Ausdehnung der Friedhöfe trübten diesen Eindruck. Die Überlebenden des göttlichen Infernos, die aus Angst, der Tod könne auch sie auf diese schreckliche Weise in der Nacht ereilen, nicht mehr schliefen, hörten auf, die Nächte zu durchwachen. Der Alltag kehrte zurück und brachte andere Katastrophen, sodass sich dieses Ereignis, weil es ohne Wiederholung blieb, aus dem Gedächtnis der Menschheit langsam verabschiedete und sich nicht einreihte in die lange Liste gemeinsam erlittener Schicksalsschläge, von denen man sich abends am warmen Herd in kalten, stillen Winternächten gruselige Geschichten erzählte.
Und Morpheus? – dachte nicht eine einzige Minute darüber nach, was er verursacht hatte. Er war ein Gott und so verhielt er sich. Was interessierten ihn tote Menschen? Was kümmerte ihn unsagbares Leid? Das Ausmaß und die Folgen seines Handelns waren ihm doch von vornherein klar, oder etwa nicht? Das hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, zu tun, was er schließlich getan hatte.
Nachdem alles vorbei war, blickte er teilnahmslos auf sein Werk. Er sah die Toten, er sah die Waisen, die Witwen, die Witwer und all die anderen Trauernden, deren Schicksal in irgendeiner Weise mit den Ereignissen jener Nacht in Verbindung stand. Es berührte ihn nicht! Stattdessen wurde seine Aufmerksamkeit von einem ganz anderen Aspekt in Beschlag genommen: niemand vermutete einen Zusammenhang zwischen Schlaf, Traum und Tod. Allein aus Unkenntnis würde er nicht verantwortlich gemacht werden für ein einziges nicht mehr schlagendes Herz.
Wie sinnlos doch all sein Handeln geworden war! Zwar gehörte er nicht zu den Göttern, die große Verehrung und Anbetung gewohnt waren, doch erinnerte er sich noch gut an die Zeiten, in denen die Menschen ihm Respekt erwiesen hatten. Damit war der Gott zufrieden, bescheiden wie er war, und behandelte sie entsprechend, wenn er sie in ihren Träume besuchte. Doch nun? Endgültig verlor er die Lust an seinem Dienst.
Lange dachte Morpheus darüber nach, wie er in Zukunft mit den Träumen der Menschen verfahren sollte. Denn für ihn stand nun endgültig fest, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Verschiedene Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf, die er jedoch allesamt sofort wieder verwarf, weil sie nicht zu einer wirklichen Veränderung geführt hätten. Ganz gleich, was er getan hätte, grundlegend wäre alles beim Alten geblieben. Nichts wäre über eine Variation hinausgegangen.
Morpheus erkannte, dass er auf der Stelle trat und zwang sich zum Umdenken. Er fragte sich nicht länger, was er tun sollte, schließlich war diese Art Imperativ eines Gottes unwürdig, vielmehr fragte er sich, was er wollte beziehungsweise was nicht. Doch ernüchtert musste er feststellen, dass er auch auf diesem Weg nur schwer vorankam. Erstaunlicherweise konnte er sich nicht darüber Rechenschaft ablegen, was er wirklich wollte.
Die Menschen wüssten nicht mehr, dass er es war und ist, der ihnen Träume schenkt, resümierte er, folglich spielte es keine Rolle, ob er weiterhin mit ihnen träumte oder nicht. Er überlegte sogar, ob es nicht besser wäre, wenn die Menschen überhaupt nicht mehr träumten, denn nur allzu leicht wurden sie auch dann durch einen Traum in Verwirrung gestürzt, wenn sie ihn ausschließlich positiv erfahren hatten. Und warum sollte er überhaupt bis in alle Ewigkeit für die Träume der Menschen zuständig sein? Er hatte doch bereits alles erschaffen, was es zu erschaffen gab. Ungezählte Nächte hatte er in der Phantasie Schlafender verbracht. Er kannte sich in ihrem Unterbewusstsein besser aus als jeder Psychiater und verstand nicht, warum man darum so viel Aufhebens machte. Er brauche die Menschen nicht, sagte sich Morpheus und beschloss, nur noch der Schöpfer ihrer Träume zu sein, wenn ihm danach war. Ja, nur so handle er wie ein Gott!
Die Zeit, die er nicht mehr in Träumen verbrachte, nutze er zum Schlafen. Sein Schlaf war länger, tiefer und fester als der eines Menschen. Allerdings bedeutete das nicht, das ihnen keine Träume mehr beschert wurden. Morpheus sorgte dafür, dass seine Abwesenheit nicht bemerkt wurde. Dazu bediente er sich der Hilfe von Menschen, die er manipulierte und mit beinahe göttlichen Fähigkeiten ausstattete, damit sie an seiner statt walteten und ihn gebührend vertraten; für die Auswahl sorgte der Zufall. Diesen Auserwählten erschien er selbst im Traum. Allerdings erlebten sie nicht die Art von Träumen, wie sie einem jeden bekannt sind. Unverhüllt erschien ihnen der Gott und befahl, was sie von der folgenden Nacht an zu tun hatten. In seinem Auftrag erzeugten sie nun die Träume ihrer Mitmenschen.
Morpheus hatte seine Helfer mit einem großen Repertoire an Traumgestalten und -inhalten ausgestattet, sodass die Träumenden keinen Unterschied bemerkten. Sie verrichteten ihre Arbeit zuverlässig und erinnerten sich am nächsten Morgen in der Regel an rein gar nichts, da der Gott Sorge getragen hatte, dass sie ihren Aufgaben in einem Zustand nachkamen,