Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt

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Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt

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dort, wohin er von unsichtbaren Füßen getragen wurde.

      Eine Weile ging er so weiter. Nach einiger Zeit kam es ihm so vor, als werde es langsam heller und er dachte, seine Augen hätten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Doch plötzlich sah er einen Stern hoch am Himmel stehen. Er betrachtete ihn außergewöhnlich lange, um sicher zu gehen, dass er wirklich da war und er sich nicht täuschte. Der Stern verschwand nicht und sein Licht leuchtete stärker und heller, je weiter er ihm entgegen schritt. Und schon entdeckte er einen zweiten Stern und dann einen dritten, einen vierten und schließlich einen fünften. Es wurde heller und heller.

      Unvermittelt blieben die Füße stehen. Sich umblickend prüfte Paul die Umgebung, die er erst jetzt wahrnehmen und erkennen konnte. Er fand sich inmitten einer märchenhaften Landschaft. Eine weithin verschneite Ebene breitete sich vor seinen Augen aus, die in großer Entfernung, die nicht abzuschätzen war, in eine bewaldete Hügelkette überging, die ebenfalls mit Schnee bedeckt war. Jedoch war er zu weit entfernt, als dass er Details hätte unterscheiden können.

      Paul spähte in alle Himmelsrichtungen und stellte fest, dass die Hügelkette scheinbar einen geschlossenen Kreis bildete. Vielleicht befand er sich inmitten einer riesigen Lichtung in einem noch größeren Wald, war der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam. Aber wie war er an diesen Ort gelangt, fragte er sich, und suchte vergebens einen Weg. Hatte er unbemerkt die Kette überquert? Nicht einmal seine eigenen Fußspuren im Schnee konnte er finden.

      Paul war sich nicht mehr sicher, wirklich durch Dunkelheit gewandert zu sein. Womöglich hatte er sich alles nur eingebildet, hatte keinen Schritt vorwärts getan? Er dachte nach und kam zu keiner Antwort. Er hatte nichts sehen können, als er sich fortzubewegen glaubte, rief er sich ins Gedächtnis. Er wusste nicht, ob es überhaupt seine Beine gewesen waren, die ihn getragen hatten. Außerdem widersprach die geschlossene Schneedecke der Vorstellung, er sei zu Fuß hierher gekommen. Hatte Wind seine Spuren verweht, überlegte er, bemerkte aber sofort, dass es absolut windstill war, nicht einmal ein laues Lüftchen war zu spüren. Auch war kein neuer Schnee gefallen, seit er die Umgebung sehen konnte, war sich Paul sicher. Es gab keine Erklärung dafür, wie er hierher gelangt war.

      Da stand er nun und wusste nicht, wo er sich befand, geschweige denn, wie er diesen verzauberten Ort erreicht hatte. Allerdings führte das nicht dazu, dass er sich in irgendeiner Form unwohl fühlte. Kaum war ihm bewusst geworden, dass er dieses Rätsel nicht lösen konnte, konzentrierte er sich wieder auf seine Umgebung. Diesmal blieb sein Blick ungetrübt von jeglichen Gedanken und er sah die winterliche Landschaft in ihrer vollen Pracht. Er ließ die Stille wirken, er öffnete sich der Weite, er war bereit, die Kälte des Winters aufzunehmen, die – dem Gott sei dank – ihn nicht frösteln machte.

      Er blickte nach oben und fand Luna in ihrer vertrauten Gestalt direkt über seinen Kopf; in solch ungewöhnlicher Nähe hatte er sie noch nie zuvor gesehen. Wie weit mochte sie entfernt sein? Eine Handbreit, eine Armlänge? Bestimmt könne er sie berühren, dachte er, und noch bevor er diesen zugegebenermaßen unsinnigen Gedanken verwerfen konnte, spürte er, wie ihre Anziehungskraft sich seiner Arme bemächtigte, dieselben anzog, als seien sie Wassermassen, und staunend konnte er mit ansehen, wie sich seine Händen nach ihrem Licht reckten, vollkommen losgelöst und unabhängig von seinem Willen. Doch Paul war zu klein. Einige Zentimeter fehlten, um mit den Fingerspitzen ihr leuchtendes Antlitz berühren zu können. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, doch auch das genügte nicht. Gerade wollte er aufgeben, da kam sie ihm ein Stück entgegen. Paul wunderte sich nur kurz und streckte erneut seine Hände aus. Vorsichtig und behutsam berührte er sanft ihre Oberfläche, die sich rau anfühlte und unebener war, als es den Anschein hatte, von der aber nichts desto Trotz eine angenehme Wärme ausging, die er auf seiner Hand spürte. Nachdem er Luna mit den Fingerspitzen solange im Kreis gedreht hatte, bis er sie von allen Seiten ausgiebig betrachtet hatte und sich ein leichtes Schwindelgefühl ihrer bemächtigte, gab er ihr einen vorsichtigen Stoß mit dem Zeigefinger, sodass sie sich an ihre angestammte Position zurückbegeben konnte.

      Paul fühlte sich leicht, glücklich, gelöst und zufrieden. Er stand noch immer umgeben von verschneiten Hügeln einsam und verlassen in einer Winternacht. Nichts regte sich um ihn herum. Er starrte geradeaus und fand keinen Grund, etwas anderes zu tun, es gab keinen Anlass, den Zauber dieser Situation zu brechen. So viel Stille, so viel Ruhe, so viel Frieden, keine anderen Menschen; er wollte bleiben, solange er nur konnte.

      Nach einer unbestimmten Zeit, die dem Träumenden ewig schien, verspürte er das Verlangen, diesen Ort zu verlassen. Längst hatte er seine Augen geschlossen, um die Ruhe noch besser genießen und aufnehmen zu können. Und als er sie wieder öffnete, um weiterzugehen, blickte er erneut in jene Finsternis, die er durchschritten hatte, bevor Luna und ihre Sternenkinder ihn mit ihrem Licht begrüßt hatten. Wieder fühlte er, wie er sich festen Schrittes vorwärts bewegte. Wiederum fragte er sich, ob es seine Füße waren, die ihn trugen, und auch diesmal fand er keine Antwort. Irgendwann werde es wieder heller, sagte er sich, eine Lichtquelle würde die Dunkelheit durchbrechen und ihm zeigen, wo er sich befand. Weitere Gedanken machte er sich nicht, denn in ihm war tiefes Vertrauen, das alles umfasste und weder begründet werden konnte, noch musste. Dieses Gefühl war einfach da und sorgte dafür, dass er mit allem, was er tat und auch mit allem, was ihm geschah, vollkommen im Einklang stand. Er schloss seine Augen aufs Neue und wollte sie erst wieder öffnen, wenn er von den unsichtbaren Füßen nicht mehr weitergetragen werden würde.

      Als Paul seine Augen wieder öffnete, fand er sich unversehens in einem Zugabteil wieder. Der abrupte Wechsel der Situation beunruhigte ihn nicht, er blieb entspannt. Ein Blick aus dem Fenster genügte ihm, um die Strecke zu erkennen. Unzählige Male schon hatte er sie im Zug befahren, wenn er von seiner Heimatstadt in die Stadt fuhr, in der er studierte und natürlich ebenso in umgekehrter Richtung. Er bemerkte, dass er der Universitätsstadt näher kam und bald deren Bahnhof erreichen musste; er nahm an, dass er in wenigen Minuten aussteigen würde. Als der Zug jedoch den Bahnhof erreichte, machte Paul keinerlei Anstalten, ihn zu verlassen. Er blieb sitzen, grundlos und unmotiviert, sah aus dem Fenster und beobachtete die Menschen, die mehr oder weniger hastig den Bahnsteig entlang eilten; dann fuhr der Zug weiter.

      Nach wenigen hundert Metern überkam Paul ein Gefühl der Beklommenheit. Ja, natürlich, er hätte aussteigen müssen! Warum war er geblieben, fragte er sich, war ihm doch völlig klar, am Ende der Reise angelangt zu sein. Er dachte nach und fand keine einleuchtende Antwort. Während er nachdachte, blickte er abwesend aus dem Fenster. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihm die Gegend entlang der Strecke ein anderes Gesicht zeigte, als er in Erinnerung hatte. Sicher, allzu oft fuhr er nicht hier vorbei und auch sonst bot ihm dieser Landstrich keine besonderen Gründe, ihn besser kennengelernt zu haben, doch begründete das nicht, was er sah beziehungsweise nicht sah.

      Schon kurz nach dem Bahnhof verschwanden die Häuser der Stadt und gingen in eine ländliche Gegend über. Dort, wo Paul das Industriegebiet erwartete, zeigten sich seinen Augen lediglich ein paar Äcker, Wiesen, vereinzelte Bäume und in weiter Entfernung konnte er geradeso noch eine Straße ausmachen. Er wunderte sich und überlegte, wo der Zug wieder Halt machte. Er erinnerte sich an ein kleines eingemeindetes Örtchen, das zwar über einen Bahnsteig, jedoch nicht über ein Bahnhofsgebäude verfügte, bestimmt hielt der Zug dort. Er würde aussteigen und zu Fuß in die Stadt zurückgehen müssen, sagte er sich; eine lange Wanderung stand ihm bevor.

      Immer fremder wurde die Gegend. Je weiter sich der Zug von der Universitätsstadt entfernte, desto schneller wurde er. Paul schien, es existiere ein geheimer Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Fremdheit. Bald konnte er die Landschaft nicht mehr erkennen, sie verschwamm, wurde durch die Geschwindigkeit verzerrt. Nun fiel ihm auf, dass immer mehr Fahrgäste schwankend, mit den Armen rudernd und jeden sich bietenden Halt nutzend zu den Türen eilten, während der Zug unentwegt weiter raste und sein Tempo noch zu steigern schien. Er verstand sie nicht, verrückt mussten sie sein, meinte er, und presste sich tiefer in den Halt gebenden Sitz. Er war sicher, dass noch einige Minuten bis zum nächsten Halt vergehen würden. Die Menschen jedoch drängten in einer ständig größer werdenden Traube zum Ausstieg.

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