Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg. Horst Lederer
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Klützer St.-Marien-Kirche
Foto: Rabanus Flavus
Viele weinten während des Gottesdienstes. Einige wischten sich verschämt die Tränen aus den Augen, andere schluchzten hörbar. Ich hatte das Gefühl, dass Hunger, der Verlust eines Angehörigen, die Trennung von der Heimat oder eine Krankheit sie so depressiv und freudlos gemacht hatten. Zum anderen imponierte mir auch der Pastor Wömpner, der im schwarzen Talar mit dem weißen Beffchen auf der Kanzel stand und mit dem, was er sagte, diesen hoffnungslosen Menschen Trost und Lebensmut zusprach, und das ohne Manuskript, aber mit wechselnder Lautstärke und sich ständig änderndem Tonfall. Trotzdem verstand ich manches nicht, weil er sich ja an die Erwachsenen wandte.
Es gab für mich manche Schwierigkeiten: Zunächst war für mich der gesamte Ablauf des Gottesdienstes neu, auch die gesamte Liturgie. Ich besaß kein Gesangbuch, konnte deshalb nicht mitsingen oder in anderer Weise aktiv werden. Das Schlimmste aber für mich war, dass ich Sonntag für Sonntag eine Stunde lang entsetzlich fror, vor allem so kalte Füße hatte, dass ich sie manchmal gar nicht spürte. Zwei Dinge beeindruckten mich: Die Kirchenbesucher waren zumeist sehr traurig, sahen bleich, mager, abgehärmt, hoffnungslos, sehr ernst drein.
lm Gutshaus berichtete ich davon meiner Mutter und Tante Liesbeth. Meine Mutter schlug mir daraufhin vor, ab Ostern eine Stunde später zur Kirche zu gehen und am Kindergottesdienst teilzunehmen. Vorher erlebte ich aber noch am Palmsonntag, dass unter den Konfirmanden dieses Jahrgangs auch zwei Arpshagener waren, Helga Russow und Rolf Kaßner. Von nun an wurde der Kirchgang für mich erheblich angenehmer. Da es Frühling geworden und mithin wärmer war, hatte ich keine kalten Füße mehr. Für die Gestaltung des Kindergottesdienstes hatte Pastor Wömpner einen ganzen Mitarbeiterstab gewonnen, ausschließlich junge Mädchen, die zur Klützer Jungen Gemeinde gehörten, Irmgard Wigger †, Fräulein Brauner, Evamaria Lehmann †, Ruth Rogowski †, Lieselotte Sander, später auch die Katechetin Irma Ziebell †, die jeweils in einem anderen Teil der Kirche eine Altersgruppe auf die in der zusammenfassenden Predigt zu behandelnde biblische Geschichte vorbereiteten, uns Fragen dazu stellten, aber auch unsere Fragen beantworteten, unbekannte Begriffe erklärten und mit uns eines der Lieder übten, das später gemeinsam gesungen werden sollte. Am meisten freute ich mich immer auf eine in der amerikanischen Zone gedruckte, reich bebilderte Kinderzeitschrift, die Pastor Wömpner an uns beim Verlassen der Kirche verteilte.
Jeden Donnerstagabend fand im Klützer Gemeindesaal eine Bibelstunde statt, an der auch eine Reihe Frauen aus Arpshagen regelmäßig teilnahm, Frau Maria Schulz, Martha Glass, die alte Frau Müller, Frau Schmidt, Frau Anna Reinke, Frau Ziesler und unsere Großmutter Alwine Diethert, also ausschließlich Flüchtlinge.
Meine Tante Else gehörte als junges Mädchen dem Netztaler Jugendbund an, den die Diakonisse Henriette Roth leitete und u. a. auch einen leistungsstarken Jugendchor gründete. Schwester Henriette erkannte Else Dietherts gesangliches Talent und förderte es, indem sie Else Soloparts und Duette mit Orgelbegleitung singen ließ. Der Jugendchor trat anlässlich von weltlichen und kirchlichen Festen auf, so alljährlich zu Fronleichnam in den Eichbergen. Viele der Lieder hatte sich meine Tante so fest eingeprägt, dass sie sie auch noch in Arpshagen bei manchen Feldarbeiten oder auch häuslichen Tätigkeiten vor sich hin summte oder laut trällerte. Dann hörte sie, dass in der Klützer Kirchgemeinde ein gemischter Chor bestand, den Fräulein Elsbeth Steinbeck leitete, die auch Klavierstunden erteilte. Else Lederer meldete sich bei ihr an und wirkte etwa ab 1947 als Sopranistin im Chor mit. Als ich beiläufig erfuhr, dass meine Tante zu Ostern zum ersten Mal in der Klützer Kirche singen würde, setzte ich mich im Gottesdienst auf die Empore, die eigentlich dem Posaunenchor vorbehalten war, sodass ich den Chor direkt vor mir im Blickfeld hatte. Ich war hocherfreut, dass meine Tante im grünen Lodenmantel in der ersten Reihe unmittelbar neben der Orgel sang, und in meiner kindlichen Einfalt hielt ich diese Position für einen Ehrenplatz und nahm an, dass Else Lederer bereits nach wenigen Proben zur besten Sopranistin des Chores avanciert wäre, und lobte die kleingewachsene Elsbeth Steinbeck in Gedanken für ihre perfekte Entscheidung. Zu meiner Enttäuschung währte die Chorsängerinnenkarriere meiner Tante nur kurze Zeit. Bei weiteren Auftritten des Kirchenchores vermisste ich sie schmerzlich im Sopran. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was sie damals bewogen hatte, mit dem Chorgesang aufzuhören, ob es ihre nun knapper bemessene Freizeit war oder, was sie manchmal äußerte, ob es die in Klütz gesungenen Lieder waren, die ihr nicht gefielen, ich weiß es nicht.
Die Bodenreform in Arpshagen
Auf Veranlassung der sowjetischen Besatzungsmacht wurden die Bodenreformverordnungen von den Landes- und Provinzialverwaltungen auf dem Gebiet der damaligen Ostzone Anfang September 1945 erlassen, in Mecklenburg-Vorpommern am 5. September.
In Arpshagen fand die formelle eigentliche Bodenreform am 19. Oktober 1945 statt, und zwar in Verbindung mit dem ersten Nachkriegserntefest. Dem Vernehmen nach soll auf der großen Diele des reetgedeckten Getreidespeichers (später Anwesen von Stefan Patynowski) neben dem Gutshaus der offizielle Beginn für die Neuverteilung des Grund und Bodens und die Enteignung der Grafenfamilie von Bothmer von Vertretern der Stadtverwaltung verkündet worden sein. Gleichzeitig wurde die erfolgreiche Einbringung der ersten Ernte im Frieden gewürdigt und den Arpshagener Landarbeitern dafür gedankt. Beides sei ein Grund zum Feiern.
Nach den offiziellen Reden wurde fröhlich und ausgiebig gefeiert. Eine kleine Musikkapelle aus Klütz spielte zum Tanz auf. Es wurden Fassbier und billiger Schnaps ausgeschenkt, die ihre Wirkung nicht verfehlten. In die Organisierung und Vorbereitung dieser Festveranstaltung hatte sich auch der seinerzeit im Arpshagener Gutshaus wohnende Tierarzt Dr. Preuß mit eingebracht, der einige junge Frauen aus Oberklütz dazu eingeladen hatte, so seine Freundin Lotti Baumann geborene Wieschendorf, eine lebenslustige Kriegerwitwe, sowie die beiden Flüchtlingsmädchen Irma Harder und Irmgard Münchow.
Während in Arpshagen bis in die Morgenstunden getanzt, getrunken und gefeiert wurde, vergewaltigten in Oberklütz mehrere marodierende sowjetische Soldaten deutsche Frauen, drangen auch in das Bauernhaus von Johann Wieschendorf ein, der sich zusammen mit seiner Frau Anna dagegen zu wehren versuchte und dabei erschossen wurde. Lotti Baumann, Irma Harder und Irmgard Münchow entgingen dank ihrer Teilnahme an der Festlichkeit in Arpshagen einer möglichen Vergewaltigung.
Die Verlosung der Äcker, Wiesen, Weiden, Waldflächen und Bauplätze erfolgte zu einem späteren Termin, den ich nicht exakt ermitteln konnte.
Ihr ging die exakte Vermessung der gesamten Arpshagener Gemarkung durch mehrere Berufslandvermesser voraus, die alle Areale in etwa gleich große Flächen aufteilten, ohne dabei die Bodenwertzahl zu berücksichtigen, und sie nummerierten. Sie trugen ihre Vermessungsergebnisse in Flurkarten ein, die sie auch als Lichtpausen an das Kataster- und Vermessungsamt des damaligen Kreises Schönberg weiterleiteten.
Nach Abschluss ihrer Arbeit beaufsichtigten die Landvermesser auch das präzise Setzen der Grenzsteine zwischen den einzelnen Flächen.
Zum Tag der Verlosung der Parzellen wurden alle Siedlungswilligen eingeladen, in der Diele des Gutshauses zu erscheinen. Dort war ein Tisch aufgestellt, an dem die beiden Schriftführer Kröpelin und Teut Platz nahmen. Ich konnte aber nicht ermitteln, ob bei dieser Verlosung ein neutraler offizieller Vertreter der Behörde anwesend