Truski - das Römermädchen vom Reitstein. Werner Siegert
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Die Hand aus der Römerkiste
Kommissar Maurice Elsterhorst liebte es, gelegentlich über alte Friedhöfe zu schlendern. Einerseits wirkten all diese Grabkreuze und vermoosten Engelsgestalten wie ein schwarzes Passe-partout, vor dem sich seine Lebendigkeit heller abhob als draußen in der Grauwelt seines Berufes. Auch dachte er sich: Die, die hier liegen, von denen kann keine Gefahr mehr ausgehen. Und: Sie haben’s geschafft. Kein Ärger mehr mit dem Finanzamt, mit den Banken, mit den Erben. Wer früher stirbt, spart halt sehr viel Geld. Da haben die Nachkommen schon mal trickreich nachgeholfen. Keine Probleme mehr mit ihrem Nachlass, mit dem alten Geraffel, mit den Büchern, die keiner mehr haben will, mit Akten und Briefschaften. Allzuviele Lebendige schlagen sich indes die Köpfe ein und sorgen bei der Mordkommission II für grässliche Arbeit.
Andererseits - ob die Toten wirklich ganz tot sind? Ob sie nicht in FaceBook, YouToube, MyFriends oder all diesen neuzeitlichen Web-Unterwelten unendlich weiterleben und dort posthum vielleicht sogar permanent noch für Ärger sorgen? Gut, dass er damit nichts am Hut hat. Nicht mal twittern würde er. E-Mails nur dienstlich und wenn es gar nicht anders geht. Weil er auch immer wieder vergisst, wie es geht auf dem uralten Siemens-Handy.
Neben ihm trottete Rinaldo, sein jugendlich verspielter Labrador, den er aus England mitgebracht hatte. Eigentlich durfte man ja keine Hunde mit in den Friedhof bringen, aber Rinaldo war ja schwarz. Da würde man schon mal eine Ausnahme machen. Außerdem könnte der Kommissar, falls die Friedhofswächter Ärger stiften wollten, schnell seinen Ausweis zücken und vorgeben, einem Verdachtsfall nachzugehen. Schließlich hatte auch der Kollege Velmond seinerzeit die Namen der verdächtigen Familien-Clans auf einem Friedhof notiert, als damals diese halbverweste Leiche durch die Kirchendecke in St. Elisabethen gefallen war. Der Kerl wusste zuviel aus der Nazizeit. Das wurde ihm zum Verhängnis.
Während er so dahin spazierte und Rinaldo immer mal wieder seinen Durst an Weihwasserschälchen stillte, fuhr ihm plötzlich ein gewaltiger Schrecken durch die Glieder: Rinaldo apportierte ihm, japsend und voller Hundestolz - wenn er es vor lauter Aufregung richtig diagnostizierte - eine fast skelettierte, ledrige Menschenhand! Im ersten Augenblick fuhr ihm die Angst durch alle Glieder, Rinaldo habe in irgendeinem Grab gebuddelt: Aber erstens lägen hier ja nicht die Toten nur ein paar Dezimeter frei unter der Erdoberfläche herum. Und zweitens wies diese Knochenhand keinerlei Erdspuren auf; nur schwärzlich-braune Hautfetzen und einen verkrusteten Ring.
Rinaldo legte sein Fundobjekt brav vor Elsterhorsts blitzblanke schwarze Schuhspitzen. Und schaute sein Herrchen mit großen, vielleicht sogar entsetzten Augen von unten an, als ob er fragen wollte: Was soll ich jetzt damit anfangen?
Das allerdings war justament die Frage, die sich auch der Kommissar stellen musste.
Menschen glauben immer, Hunde würden ihre Sprache verstehen. Vielleicht tun sie es ja auch, aber sie verraten es nicht. Jedenfalls schnappte sich Rinaldo die Hand wieder, erhob sich und lief, als Elsterhorst ihn fragte „Woher zum Teufel hast du das?“ an die Friedhofsmauer zu einer Kiste. Zu einer Kiste voller staubiger Knochen und Tonscherben, aus der sogar eine Schädeldecke hervorlugte, als der Kommissar mit einem Stöckchen so ein bisschen in dieser Weinkiste mit der Aufschrift „Weingut Sonnenwinkel - Seit 1650“ herum stocherte.
Rinaldo legte die Hand wieder ab und begann erneut in der Kiste zu schnüffeln. Dabei zitterte er an den Flanken und knurrte vor sich hin, immer wieder zu seinem Herrchen aufblickend, als wollte er sagen: „Nun unternimm doch mal was! Gib mir doch mal eine Weisung und ich lege dir jeden Knochen einzeln vor die Füße!“
Elsterhorst fasste in seine Manteltasche, als ob er nach seinem Handy suchte. Dabei wusste er genau: Nie nahm er bei seinen Spaziergängen sein Handy mit. Das wäre ja noch schöner, dass er überall erreichbar wäre wie die Kommissare im Fernsehen, die immer dann, wenn sie gerade im trauten Familienkreis sitzen oder sich mit ihrer ziemlich mordverdächtigen Geliebten im Bett räkeln, zu ihrem Smartphone greifen, im Weglaufen sich rasch irgendein Kleidungsstück überwerfen, um sich kurz darauf tadellos gekleidet unter dem Absperrungsband Zugang zu einer Leiche zu verschaffen, dem Pathologen forschend ins Auge zu blicken, worauf dieser bereits den ungefähren Todeszeitpunkt und den Einschusswinkel offenbart.
Der ungefähre Todeszeitpunkt für die überwiegende Menge der Knochen und Scherben in dieser Kiste - von der Skeletthand mal abgesehen - dürfte mit Blick auf diese Reliquien etwa 2000 Jahre zurück liegen. So genau hatte er nicht mehr in Erinnerung, wann in dieser Gegend die Römer hausten. Nur die Hand, vor der Rinaldo zitternd stand, seine Lefzen trieften vor Erregung, die hatte, wenn er sich nicht sehr irrte, keinem Römer gehört.
Nun ergab sich ein Dilemma, vergleichbar mit dem des Buridan’schen Esels. Dieser verhungerte bekanntlich zwischen zwei Heuhaufen, weil er immer, wenn er zum rechten Heuhaufen trotten wollte, er sich vom Heuhaufen zu seiner Linken entfernen musste. Ebenso ging es ihm, wenn er zum linken Heuhaufen traben wollte. Da er beides nicht ertragen konnte, blieb er in der Mitte stehen und verhungerte. Ebenso erging es jetzt Kommissar Maurice Elsterhorst. Sobald er sich von der Kiste entfernte und die nächste Telefonzelle aufsuchte, blieb die Kiste ohne Bewachung. Blieb er bei der Kiste, konnte er niemanden benachrichtigen. Rinaldo mit der Leine an der Kiste festzubinden, traute er sich nicht. Nachher würde der Labrador die Kiste wie einen Anhänger hinter sich her ziehen und eventuell noch alte Weiberl beißen, die sich hier um neuen Blumenschmuck und Kerzen kümmerten. Ohnehin blickten sie scheel auf den nicht zugelassenen Friedhofsbesucher. Wenn’s ein Hunderl, ein Zamperl gewesen wäre, so was Kleines, Niedliches, ja, dann hätten sie eher ein Auge zugedrückt: „Gell, Wurzel, möcht’s mal wieder nach deim alten Herrle schauen! Wie liab!“ Aber ein schwarzer Labrador mit einer Menschenhand im Maul? Ja gibt’s denn keinen Reschpeckt mehr vor der Friefhofsruhe?
Wenn die Not am größten ist, schickt der Herr über Leben und Tod manchmal einen Retter: In diesem Fall eine junge Frau mit ihrem zu Tode gelangweilten Söhnchen, das ein Handy am Ohr hatte.
„Bitte, verzeihen Sie, liebe Frau“, Elsterhorst zückte seinen Ausweis, so dass die Frau zutiefst erschrak und total aus dem Ruder zu geraten schien, „keine Angst, wirklich keine Angst, liebe Frau, aber ich sehe gerade, Ihr Bub telefoniert. Mein Handy .... die Batterie ist erschöpft, ich müsste ganz schnell mal im Präsidium anrufen. Ich gebe Ihnen auch zwei Euro!“
„K r i m i n a l p o l i z e i ?“ krähte der Kleine voller Entzücken in die Friedhofsruhe. Endlich war mal was los hier und überdies durfte er Rinaldo streicheln, was dieser mit äußerstem Wohlbehagen über sich ergehen ließ und dafür sogar die eklige Skeletthand im Gras ablegte.
„Frau Möbius? Ist Kollege Velmond nicht da? Nein? Wo ist er denn wieder? Tote an der Rosenbank? In Südtirol? Schon wieder? Ein neuer Fall? Na ja, ich muss mich kurz fassen: Ich bin auf dem Südfriedhof, ich habe hier Knochen gefunden, eine ganze Kiste voll! .... Nein, nicht in einem Sarg. In einer Weinkiste! .... Ja, es sind alte Knochen, sehr alte, aber offenbar auch jüngere. Rinaldo hat eine Menschenhand apportiert! .... Nein, er frisst sie nicht. Er nagt auch nicht daran! .... Schicken Sie einen Wagen zum Osteingang! .... Nein, ich habe kein GPS dabei .... nein auch kein Handy .... das habe ich mir ausgeliehen!“
„Gehört die Hand zu Onkel Hermann?“ wollte der Bub wissen.
„Wie kommst du denn darauf?“ fragten fast unisono die Mutter und der Kommissar.
„Nun, der Onkel Hermann, der hat doch auch nur eine Hand. Da muss die andere ja hier irgendwo begraben liegen!“
„Was du wieder für einen Quatsch redest. Der Onkel Hermann hat die doch bei einem Betriebsunfall verloren!“
„Und wo ist die dann geblieben?“