Wolfskinder. Klaus Melcher
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Die Menschenströme verteilten sich.
Die Rolltreppe zu den Gleisen der Nahverkehrszüge sogen ihre Fahrgäste auf, andere drängten sich an den Rolltreppen zur U-Bahn oder hasteten die breite Treppe hinunter. Nur wenige nahmen den Ausgang zum Raschplatz.
Sie gingen an den Taxis vorbei und sahen sich um.
Von der anderen Seite des Platzes sahen sie in weitem Bogen zwei Männer auf das Parkhaus zugehen. Sie hatten es nicht besonders eilig, schienen aber zielstrebig zu sein, Geschäftsmänner, die ihr Auto abholen wollten.
Als die Jugendlichen, ein Junge und zwei Mädchen von vierzehn bis sechzehn Jahren, merkten, dass die vier Männer nicht harmlose Autofahrer waren, sondern dass ihr Besuch ihnen galt, war es für eine Flucht zu spät. Sie saßen in der Falle.
Dem jüngeren Mädchen, feuerrote Haare mit violetten Strähnen, sah man das Leben auf der Straße besonders an. Tiefe Ringe unter den glasigen Augen, verdreckte, abgerissene Kleidung, bot es den Anblick tiefster Verwahrlosung. Es reagierte kaum, als die Beamten ihre Personalien überprüften, zog endlich in aller Ruhe einen zerknitterten Fetzen Papier vor und wandte sich wieder ab.
Die Polizisten sahen sich vielsagend an.
„Hast du nicht noch andere Papiere? Einen Perso zum Beispiel?“
Das Mädchen reagierte nicht.
„Völlig zugekifft“, meinte Buchholz.
Der ältere der beiden Polizisten nickte und wandte sich dem Jungen zu.
„Wer seid ihr eigentlich, dass ihr uns kontrollieren könnt?“
Immerhin, er war noch klar, einigermaßen wenigstens.
Buchholz wollte ihn anschnauzen, er hätte gefälligst seinen Ausweis zu zeigen, sie kämen vom Jugendamt und die beiden Herren wären von der Polizei, aber der Beamte hielt ihn zurück.
„Lassen Sie mal, wir kommen mit dem Jungen schon zurecht.“
Nachdem sie einige Minuten mit ihm geredet hatten, sich sein Gepäck hatten zeigen lassen, baten sie ihn und die beiden Mädchen, in ihr Fahrzeug einzusteigen, und fuhren mit ihnen zur Wache.
„Nur um eure Personalien zu überprüfen“, versicherten sie, „und euch dann nach Hause zu bringen. Da macht man sich bestimmt schon Sorgen.“
Das ältere Mädchen, es hieß Sonja, lachte laut auf.
„Sorgen? Die bestimmt nicht!“
Schweigend fuhren Buchholz und sein junger Kollege zurück zum Büro.
Sie hatten einen erfolgreichen Vormittag hinter sich, und Buchholz wollte die Sache schnell hinter sich bringen, seinen Bericht schreiben und ihn abheften. Es war eine fantastische Gelegenheit, Harms einzuarbeiten.
Wenn die jungen Kollegen gerade von der Schule kamen, waren sie doch eine arge Belastung, störten den ganzen Ablauf. So etwas theoretisch zu üben, brachte gar nichts und kostete unnötig viel Zeit. Wann hatte so ein junger Referendar schon mal die Möglichkeit, einen Einsatz von Anfang an bis hin zum Abschluss mitzuerleben?
Er würde Harms das ältere Mädchen übertragen. Das machte einen etwas einfacheren Eindruck. Aufmüpfig war auch sie, aufmüpfig waren sie alle, man konnte sich fast freuen, wenn sie einen nicht beschimpften, traten und bespuckten; aber es war wenigstens noch einigermaßen zugänglich.
Sie verließen die Straßenbahn am Küchengarten, gingen über die Fußgängerbrücke, schlängelten sich vorbei an den Baustellenabsperrungen und kamen zu dem Trakt, in dem das Jugendamt residierte.
Ohne sich irgendwo aufzuhalten, steuerten sie Buchholz’ Zimmer an, das durch den Zugang etwas eng geworden war. Man hatte einfach einen zweiten, kleineren Schreibtisch gegen den von Buchholz gestellt. Es wäre nur eine vorübergehende Notlösung, hatte man versichert. In zwei, drei Wochen würde Harms einem anderen Sachbearbeiter zugeteilt, der dann die Ausbildung fortsetzen würde.
Nachdem Buchholz erst einmal fast bissig reagiert hatte, weil man ihm seine Ruhe störte, hatte er sich doch sehr schnell an den Neuen gewöhnt. Er war einfach zu nehmen und sehr gefällig. Wenn Buchholz eine Akte brauchte, reichte er sie ihm, ging notfalls auch ins Archiv, fragte ihn um Rat und nahm ihn auch gerne an. Nicht so wie viele andere, die nur fragten, um sich einzuschmeicheln, und dann doch taten, was sie für richtig hielten.
Nein, Harms entwickelte sich immer mehr zum Glücksgriff.
Harms hatte drei nagelneue Aktendeckel in der Hand, als er das Büro betrat.
„Wo haben Sie denn die aufgegabelt?“
Buchholz war erstaunt. In seiner ganzen Amtszeit hatte er noch keinen neuen Ordner gesehen. Alle waren beschrieben, gestempelt, hatten Eselsohren und Flecken.
Harms grinste und machte eine unmissverständliche Handbewegung.
„Und wo?“
„Bei Frau Mehwald. Ich habe ihr ein paar Komplimente gemacht, da hat sie mir die Deckel freiwillig gegeben.“
Harms reichte zwei Deckel über den Schreibtisch und behielt einen für sich.
„Wollen Sie in der Herschelstraße anrufen, oder soll ich?“, fragte er.
Buchholz war begeistert. Erst die Aktendeckel, dann wollte ihm Harms auch noch das langweilige Gespräch mit den Beamten abnehmen.
Wenig später saßen die beiden Männer an ihren Schreibtischen, hatten eine Tasse dampfenden Tees rechts neben und einen Aktendeckel vor sich, den sie sorgfältig beschrifteten:
Name, Geburtsdatum, aufgegriffen am.
Rechts an den Rand schrieb Buchholz in Großbuchstaben: ‚WOLFSKINDER’
Harms sah Buchholz fragend an.
„WOLFSKINDER?“
„Wolfskinder, ja. So nennen wir die Herumtreiber.
Ungebunden streifen sie durch die Stadt, sind mal hier, mal da, mal im Rudel, mal einzeln. Sie halten zusammen, und manchmal bekämpfen sie sich. Wenn man sie fangen will, sind sie verschwunden. Dass wir die drei aufgesammelt haben, war reines Glück. Meistens sind sie weg, wenn wir kommen. Und sie stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist. Ein unbeobachteter Augenblick, und sie haben dir das Portemonnaie gestohlen – oder einen ganzen Koffer. Irgendwo in einer finsteren Ecke plündern sie ihn, alles was verwertbar ist, nehmen sie raus. Was sie nicht brauchen, lassen sie liegen.
Wenn Sie mal wieder auf dem Bahnhof sind, sehen Sie sich das an. Aber seien Sie vorsichtig, das ist nicht ungefährlich.“
„Sie mögen die Jugendlichen nicht?“
Buchholz war erstaunt.
„Sie etwa? Was ist denn los mit denen? Sie schwänzen die Schule, hängen auf den Straßen und Plätzen rum, kiffen und saufen, stehlen und