Marie, Putin und das fünfte Gebot. Maxi Hill
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Marie wirft ihren Körper auf die andere Seite und bläst heiße Luft von sich. Dieses Leben neben einem selbstherrlichen Knackarsch verlangt volle Konzentration auf das Wesentliche. Und das Wesentlich ist – was ihre eigenen vier Wände betrifft, zu denen der Balkon gehört – nur sie selbst und nun eben auch Putin. Sie wirft sich zurück auf die Ausgangsseite und drückt ihren Oberarm auf das rechte Ohr. In ihrem Kopf kämpfen braune, bissige Hunde gegen weiße, friedliche, Hasen …
Das hätte sie nicht zulassen sollen. Nicht nachts. Sie kennt das Ergebnis: Verlierer sind immer die Hasen, und die sieht Marie mal wieder aufgereiht auf Holzgalgen an Seilen, felllos-nackt, rosa blutig und mit gespreizten Schenkeln, die die verrohte, konsumgeschädigte Welt Keulen nennt und bei deren Anblick sich millionenfach Drüsen-Düsen öffnen.
An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken! Auf nackten Füßen schleicht sie hinaus auf den Balkon, öffnet das Drahttürchen, krault mit den frisch lackierten Fingernägeln über Putins holzwollverfitztes Fell und schielt routinemäßig um die schmale Trennwand herum zum Muskelprotz-Gehege hinter der gardinenlosen Balkontür. Wenn sie die Spiegelung richtig deutet, sitzt der Kerl mit seinem Knackarsch auf dem Boden, seinen nackten, muskulösen Rücken an die Polster einer hellen Couch gelehnt krault er seine Bestie. Zur Belohnung für die nächtliche Kläfferei wird er es nicht tun!
Es wird ihr gleich besser gehen, wenn sie ihren Frust in die Abendluft geschleudert hat: »Memme. Hast wohl doch Schiss in der Hose, jemand könnte dich anzeigen, wenn deine Töle keine Ruhe gibt …!«
Feindschaft
Marie hatte einen Traum. Wieder denselben, der sie schon seit Jahren verfolgt – nicht alptraumhaft, eher als kleines Licht zur Erleuchtung ihrer dunklen Erinnerungen. Ihr Großvater war gar kein so schlechter Mensch, und davon träumt sie jetzt oft, seit sie Putin hat. Vielleicht, weil Putin sie an den Osterhasen erinnert? Vielleicht weil das neuerliche Sammeln von Löwenzahn jene Zeit erleuchtet, wo sie als kleines Mädchen nur allzu gerne mit ihrem Opa durch die Wiesen streifte. Eine Oma hatte sie nicht. Nicht auf diesem Dorf, aber eine in der Stadt, nur war es bei der nie so spannend wie bei Opa Hermann.
*** Sie war vielleicht drei oder vier Jahre alt und verbrachte mal wieder ein paar Tage bei Opa Hermann auf dem Dorf. Hinter dem Haus gab es einen Hühnerstall und einen kleinen Garten. Es war der schönste Ort, den Marie kannte. Auf der grünen Wiese drängten sich bunte Krokusse eng aneinander und am Rundbeet wippten die zarten Köpfe der Osterglocken im lauen Frühlingswind.
»Komm Marie«, sagte Opa zu ihr und nahm sie bei der Hand. »Wir wollen in den Wald gehen und Moos für ein Osternest holen.«
Marie schob ihre zarte Hand in Opas raue Faust und gemeinsam spazierten sie zum nahen Waldrand. Plötzlich legte Opa seinen Finger an Maries Mund, hob sie auf einen Baumstumpf und wies ins Nichts. »Hast du das weiße Schwänzchen wippen sehen?«, sagte er mit merkwürdigem Lächeln um den bärtigen Mund. Sie schüttelte aufgeregt ihren Kopf. »Das war der Osterhase«, flüsterte Opa und begann sogleich Moos vom Waldboden abzuheben. Im Garten bauten sie daraus ein weiches Osternest. Vor lauter Freude hüpfte sie umher und sang: »Osterhas′, Osterhas′, leg mir Eier in das Gras.«
Am Nachmittag schlich sie heimlich ums Haus und öffnete das Gartentor, damit der Osterhase auch wirklich hineinschlüpfen konnte. Doch schon marschierten die Hühner feierlich hindurch. Hahn Gockel schlug aufgeregt mit seinen Flügeln, Huhn Berta zupfte neugierig an dem unbekannten Ding herum und Henne Anna kuschelte sich gar bequem in ihr Osternest. Das gefiel Klein-Marie überhaupt nicht. Sie nahm ihre Kreiselpeitsche und jagte die Hühner davon. Ja sie schlug sogar nach ihnen. Mit lautem Gegacker stoben sie in alle Himmelsrichtungen auseinander. Hahn Gockel flog auf die Teppichstange, um seine Hennen im Auge zu behalten und er krähte aus voller Kehle.
»Hast du das verstanden?«, fragte Opa sorgenvoll. »Nein«, gestand sie, aber Opa verstand die Sprache der Tiere offenbar.
»Kikeriki! Bös’ ist Marie.« Er sah dabei sehr nachdenklich aus. Am nächsten Morgen saß er auf seiner Holzbank in der Frühlingssonne und rauchte ein Pfeifchen. »Ach, was sollen wir jetzt nur tun?«, jammerte er, als sie zu ihm kam. »Die Hennen wollen keine Eier mehr legen.« Er zeigte zur Hühnerluke. Dort hing auf eine bunte Hahnenfeder gespickt ein Zettel. Er nahm ihn und las vor, was darauf stand: Ohne Hühner, merk dir das, liegt kein Osterei im Gras!
Er wartete, bis die Blicke ihrer Kulleraugen verschämt zu Boden gingen. »Der Osterhase braucht dringend die fleißigen Hühner. Wer könnte sonst die Eier legen?«
Auf leisen Sohlen schlich Marie zum Hühnerstall, füllte frisches Wasser in die Tränke, streute knackigen Weizen in den Napf und fegte sogar die Hühnerleiter sauber. Als Hahn Gockel aus der Luke huschte, schlug er dreimal mit seinen Flügeln und krähte laut: »Kikeriki, danke Marie!« So jedenfalls hatte sie die Übersetzung ihres Opas verstanden. ***
Der Alptraum geht freilich nicht so friedlich ab, wie die wahre Geschichte. Er variiert seit Jahren in einigen Details. In letzter Zeit endet er beim wütenden Gockel, der von der Teppichstange auf ihren Kopf fliegt, ein Loch hineinpickt und ihre Gedanken wie Würmer aus dem Schädel zieht. Und immer hat der Gockel den Kopf von dieser Töle, diesem Dobermann, diesem Rottweiler, diesem nachbarlichen Kalb mit Hundeschnauze …
Abgesehen davon, dass sie nach einem solchen Traum jedes Mal konfus bis völlig gedankenlos ist, was durchaus am Fazit des Traumes liegen kann, so weiß sie doch diese Träume zu deuten, sie ist ja inzwischen erwachsen. Jeder ihrer Träume ist nur der Konflikt zwischen dem, was sie selbst will und dem, was man ihr zumutet. Auch damals hat Großvater ihr zugemutet – oder dieser Gockel, wer weiß das genau – dass sie noch Beifall klatschte, als das Huhn ihr Osternest zerstörte.
Über diese fremden Erwartungen grübelt sie seit Jahren. Sie hat sogar Sigmund Freud bemüht: Träume verarbeiten den Tag. Das will sie noch weniger glauben, so verrückte Tage kann man gar nicht haben. Da glaubt sie schon lieber an die Version vom Feindbild, das der Traum offenbart und das sie bei Tage zu überdenken hat. Ihr Feindbild. Damals war es noch klein und unbedeutend … Heute ist es braun, hat steife Ohren und Schlabberlefzen.
Die kindliche Geschichte ist zudem gar nicht bedeutend. Neben ihrem aktuellen Feindbild, das sich nebenan eingenistet hat und ihre quälenden Träume bestimmt, ist es das Unwiderrufliche, das nie wieder Gutzumachende. Bis heute will ihr nicht in den Kopf, wie man sich in einem Menschen derart irren kann. Warum hat ein so lieber Mensch wie Opa Hermann auch eine schreckliche, ja beinahe bestialische Seite? Einmal sprach sie mit Mutter darüber. Das Leben lasse den Menschen manchmal keine andere Chance. Früher sei es die Pflicht zur Selbstversorgung gewesen. Zwar sei es den Menschen auf den Dörfern schon immer besser gegangen als denen in der Stadt, aber das Töten schlechthin sei unabdingbar für ihr Überleben gewesen und für selbiges von versippten Städtern.
Es muss wegen des Überlebensverständnisses ihrer Eltern gewesen sein, dass sie so oft zu Opa Hermann gebracht wurde. Das Leben, so sagte Mama oft, lohne erst in Erwartung eines großen Fressgelages. In Wahrheit wussten die Eltern um den Wert ihrer Besuche. In der frischen Landluft bekam Marie in der Tat mehr Appetit, immerhin war sie etwas zu zart geraten. Und bis zu jenem gewissen Tag mit dem Kaninchengalgen hatte sie auch nichts – und ihre Eltern sowieso nie und nimmer – etwas gegen die üppigen Fleischportionen. Vater schwärmte die Hälfte des Jahres vom köstlichen Frikassee seines Vaters, das mit Ostspargel und Westchampignon veredelt war, die Mutter aus dem Delikat-Laden der Stadt mitbrachte. Auch vom Hasenrollbraten mit einem Hauch von Knoblauch und in Weinsoße angerichtet, mit Rotkohl und Klößen, schwärmten beide vor ihren Kollegen.
Schon damals wusste Marie, dass alles