Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
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Читать онлайн книгу Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski страница 31
Er befahl dem Kutscher zu warten; er selbst kehrte mit schnellen Schritten zum Kloster zurück und begab sich geradewegs zum Abt. Er wußte noch nicht recht, was er tun würde; aber er wußte, daß er sich nicht mehr in der Gewalt hatte, und daß er, sobald nur ein Anstoß erfolgte, augenblicklich bis zur äußersten Grenze der Gemeinheit gehen würde; daß er jedoch nur eine Gemeinheit begehen würde – und keineswegs ein Verbrechen oder sonst eine unzulässige Handlung, für die er gerichtlich bestraft werden könnte. In dieser Hinsicht wußte er sich immer zu beherrschen, darüber wunderte er sich manchmal selbst.
Er erschien in dem Speisezimmer des Abtes, als das Gebet gerade zu Ende war und sich alle zu Tisch begaben. Er blieb auf der Schwelle stehen, ließ seinen Blick über die Versammelten schweifen und brach in ein langes, boshaftes Lachen aus; dabei sah er allen dreist in die Augen.
»Und die dachten, ich wäre weggefahren! Aber da bin ich!« rief er, daß es durch den ganzen Saal schallte.
Einen Augenblick starrten ihn alle schweigend an. Man fühlte plötzlich, daß sofort etwas Widerwärtiges, Sinnloses geschehen, daß es zweifellos einen Skandal geben würde. Pjotr Alexandrowitsch verfiel aus seiner edelmütigen Stimmung augenblicklich in Wut. Alles, was in seinem Herzen schon erloschen und besänftigt war, wurde mit einem Schlag wieder lebendig und brach heraus.
»Nein, ich kann das nicht ertragen!« schrie er. »Das kann ich absolut nicht ... Unter keinen Umständen!«
Das Blut war ihm in den Kopf geschossen. Er verwirrte sich sogar beim Sprechen, aber es war ihm jetzt nicht um den Stil zu tun. Er griff nach seinem Hut.
»Was kann er denn nicht?« rief Fjodor Pawlowitsch. »Was kann er denn absolut nicht und unter keinen Umständen? Darf ich eintreten, Ehrwürden, oder nicht? Nehmen Sie noch einen Tischgenossen an?«
»Ich bitte von ganzem Herzen darum«, antwortete der Abt. »Meine Herren!« fügte er hinzu. »Ich möchte Sie aus ganzer Seele bitten, Ihre zufälligen Zwistigkeiten beiseite zu lassen und sich im Gebet, in Liebe und in verwandtschaftlicher Eintracht bei unserem friedlichen Mahl zu vereinigen.«
»Nein, nein, das ist unmöglich!« schrie Pjotr Alexandrowitsch außer sich.
»Wenn es für Pjotr Alexandrowitsch unmöglich ist, dann ist es auch für mich unmöglich, und ich werde nicht bleiben. In dieser Absicht, bin ich hergekommen. Ich werde von jetzt an überall mit Pjotr Alexandrowitsch zusammen sein: Wenn Sie weggehen, Pjotr Alexandrowitsch, gehe auch ich weg. Wenn Sie bleiben, bleibe ich ebenfalls. Mit der verwandtschaftlichen Eintracht haben Sie ihm einen besonders empfindlichen Stich versetzt, Vater Abt! Er gibt nicht zu, mein Verwandter zu sein. Nicht wahr, Herr von Sohn? Ach, da steht ja Herr von Sohn. Guten Tag, Herr von Sohn!«
»Meinen Sie mich damit?« murmelte der Gutsbesitzer Maximow erstaunt.
»Natürlich meine ich dich«, schrie Fjodor Pawlowitsch. »Wen sonst? Der Vater Abt kann doch nicht Herr von Sohn sein.«
»Aber ich bin auch nicht Herr von Sohn! Ich heiße Maximow!«
»Nein, du bist Herr von Sohn. Wissen Sie, Ehrwürden, was es mit Herrn von Sohn für eine Bewandtnis hat? Es war einmal ein Kriminalprozeß: An einer Stätte der Unzucht – so werden diese Orte bei Ihnen genannt, glaube ich – war ein Herr von
Sohn ermordet und beraubt und trotz seines ehrwürdigen Alters in eine Kiste verpackt worden, und diese Kiste hatte man dann zugenagelt und als Passagiergut im Gepäckwagen von Petersburg nach Moskau geschickt. Und während die Kiste zugenagelt wurde, sangen unzüchtige Tänzerinnen Lieder und spielten dazu auf der Laute, das heißt auf dem Klavier. Also dieser selbe Herr von Sohn ist er. Er ist von den Toten auferstanden, nicht wahr, Herr von Sohn?«
»Was soll denn das heißen?« riefen mehrere Priestermönche.
»Wir wollen gehen!« rief Pjotr Alexandrowitsch, an Kalganow gewandt.
»Nein, erlauben Sie!« unterbrach ihn Fjodor Pawlowitsch kreischend und trat dabei noch einen Schritt weiter ins Zimmer. »Erlauben Sie mir, zu Ende zu reden. Zum Schaden meines Rufes haben Sie erzählt, ich hätte mich dort in der Zelle respektlos benommen, vor allem mit dem, was ich über die Gründlinge gesagt habe. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, mein Verwandter, hat in seiner Rede gern plus de noblesse que de sincerité4. Bei mir ist es umgekehrt, ich habe in meiner Rede gern plus de sincerité que de noblesse5, und ich spucke auf die noblesse! Nicht wahr, Herr von Sohn? Erlauben Sie, Vater Abt, ich bin zwar ein Possenreißer und spiele den Possenreißer, aber ich bin doch ein Ritter mit Ehre im Leibe und will mich aussprechen. Ja, ich bin ein Ritter mit Ehre im Leibe, aber in Pjotr Alexandrowitsch steckt nur Eigenliebe, mit der ist er vollgestopft, mit weiter nichts. Ich bin vielleicht nur deswegen hierhergefahren, um mir alles anzusehen und mich auszusprechen. Ich habe hier einen Sohn, Alexej, der sucht seine Seele zu retten, ich bin der Vater, ich mache mir Sorgen um sein Schicksal, und es ist meine Pflicht, mir Sorgen darum zu machen. Ich habe alles mitangehört und meine Rolle gespielt und im stillen meine Beobachtungen angestellt, und jetzt will ich Ihnen auch den letzten Akt der Vorstellung vorführen. Wie geht es bei uns zu? Was fällt, das bleibt liegen. Was einmal gefallen ist, das liegt für alle Zeit da. Ja, so ist das! Ich will aber aufstehen. Fromme Väter, ich bin über Sie empört. Die Beichte ist ein großes Sakrament, vor dem auch ich mich willig und ehrfürchtig beuge, aber dort in der Zelle fallen alle auf einmal in die Knie und beichten laut. Ist es etwa erlaubt, laut zu beichten? Von den heiligen Kirchenvätern ist die Ohrenbeichte eingeführt, nur dann wird die Beichte ein Sakrament sein, und so ist das von alten Zeiten her gewesen. So aber, wie soll ich ihm in Gegenwart aller sagen, daß ich zum Beispiel das und das ... Na, das heißt, das und das, verstehen Sie? Manchmal ist es ja unanständig, es auch nur zu sagen. Das ist doch ein Skandal! Nein, Väter, wenn man sieht, wie es hier bei Ihnen zugeht, dann möchte man beinahe lieber in die Sekte der Geißler eintreten ... Ich werde bei der ersten Gelegenheit an den Synod6 schreiben! Und meinen Sohn Alexej werde ich von hier fortnehmen!«
Hier mache ich eine Anmerkung. Fjodor Pawlowitsch hatte einmal so etwas läuten hören. Auch dem Bischof waren böse Redereien zu Ohren gekommen, nicht nur über unser Kloster, sondern auch über andere, in denen die Institution der Starzen bestand: Die Starzen würden ein zu großes Ansehen genießen, sogar zum Schaden der Stellung der Äbte; sie mißbrauchten unter anderem das Sakrament der Beichte, und so weiter, und so weiter. Alberne Beschuldigungen, die seinerzeit bei uns wie überall von selbst zusammengebrochen waren. Aber der dumme Teufel, der Fjodor Pawlowitsch gepackt hatte und an seinen eigenen Nerven immer tiefer in Schmach und Schande hineinzog, hatte ihm diese alte Beschuldigung zugeflüstert, die Fjodor Pawlowitsch nicht im geringsten begriff. Und er verstand auch nicht einmal, sie richtig vorzubringen; hinzu kam noch, daß in der Zelle des Starez diesmal niemand auf Knien gelegen und laut gebeichtet hatte, so daß Fjodor Pawlowitsch nichts Derartiges gesehen haben konnte und nur alte Gerüchte und