Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski

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Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski

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Ehe an untergeordnet, ohne zu murren und ohne zu widersprechen, und sie hatte wegen seiner geistigen Überlegenheit zweifellos eine gewisse Achtung vor ihm. Bemerkenswert ist, daß die beiden ihr ganzes Leben außerordentlich wenig miteinander sprachen, nur über die notwendigsten Dinge des täglichen Lebens. Grigori mit seinem würdevollen Wesen überdachte alle Angelegenheiten und Sorgen stets allein, so daß Marfa Ignatjewna schon längst begriffen hatte, daß er ihre Ratschläge gar nicht brauchte. Sie fühlte, ihr Mann schätzte ihr Schweigen und hielt es für ein Zeichen von Verstand. Er schlug sie nie; dergleichen war nur ein einziges Mal vorgekommen, und auch da war es nicht der Rede wert. Im ersten Jahr der Ehe Adelaida Iwanownas mit Fjodor Pawlowitsch hatten sich einmal Mädchen und Frauen des Dorfes, damals noch Leibeigene, auf dem Hof des Herrenhauses zusammengefunden, um zu singen und zu tanzen. Sie begannen das Tanzlied »Auf den Auen«, und plötzlich sprang Marfa Ignatjewna, damals noch eine junge Frau, aus der Reihe heraus vor den Chor und tanzte die »Russkaja« auf eine besondere Art, nicht wie die Dorfweiber sie zu tanzen pflegten, sondern wie sie sie als Gutsmädchen im Haustheater der reichen Miussows getanzt hatte, wo ein aus Moskau engagierter Tanzmeister die Mitwirkenden im Tanzen unterwies. Grigori sah, wie seine Frau tanzte, und eine Stunde später, bei sich zu Hause, »belehrte« er sie, in dem er sie ein wenig an den Haaren zog. Damit war die körperliche Bestrafung zu Ende und wiederholte sich in ihrem ganzen Leben nicht mehr; außerdem hatte Marfa Ignatjewna seither dem Tanzen abgeschworen.

      Kinder hatte ihnen Gott nicht gegeben; nur ein einziges Kleines hatten sie gehabt, aber auch das war gestorben. Grigori liebte jedoch Kinder offenbar sehr; er schämte sich nicht, das zu zeigen. Als Adelaida Iwanowna weggelaufen war, nahm er den damals dreijährigen Dmitri Fjodorowitsch in seine Pflege und mühte sich fast ein Jahr lang mit ihm ab, kämmte ihn selbst und badete ihn sogar selbst im Waschtrog. Später wartete er auch Iwan Fjodorowitsch und Aljoscha, wofür er auch eine Ohrfeige bekam, aber das habe ich alles schon berichtet. Das eigene Kindchen machte ihm nur Freude, während Marfa Ignatjewna schwanger war. Doch als es geboren war, erfüllte es das Herz des Vaters mit Kummer und Schrecken. Der Grund: der Sohn war mit sechs Fingern auf die Welt gekommen. Als Grigori das sah, war er dermaßen betroffen, daß er die ganze Zeit bis zum Tag der Taufe schwieg und sogar absichtlich in den Garten ging, weil er dort leichter schweigen konnte. Es war Frühling, und er grub während der ganzen drei Tage die Beete auf dem Gemüsefeld und im Garten um. Am dritten Tag mußte der Kleine getauft werden. Grigori hatte sich inzwischen etwas ausgedacht. Als er in die Stube kam, wo sich die kirchlichen Personen und die Gäste versammelt hatten und wo schließlich auch Fjodor Pawlowitsch in seiner Eigenschaft als Pate persönlich erschien, da erklärte er plötzlich, das Kind brauche überhaupt nicht getauft zu werden. Er erklärte das nicht mit erhobener Stimme und verbreitete sich nicht weiter, er preßte mühsam jedes einzelne Wort heraus, blickte aber dabei den Geistlichen mit stumpfsinniger Miene unverwandt an.

      »Warum denn?« erkundigte sich der Geistliche mit heiterer Verwunderung.

      »Weil das ... ein Drache ist...«, murmelte Grigori.

      »Wieso denn ein Drache? Was für ein Drache?«

      Grigori schwieg eine Weile.

      »Es ist eine Verwechslung der Natur vorgegangen ...«, murmelte er, zwar undeutlich, aber mit sehr fester Stimme er wollte offenbar nicht näher auf die Sache eingehen.

      Man lachte, und selbstverständlich wurde das arme Kindchen getauft. Grigori betete andächtig beim Taufbecken, ohne jedoch seine Meinung über den Neugeborenen zu ändern. Übrigens ließ er alles ruhig geschehen, nur sah er den kränklichen Knaben während der ganzen zwei Wochen, die er lebte, beinahe gar nicht an, wollte ihn nicht einmal bemerken und hielt sich größtenteils außerhalb des Zimmers auf. Als aber der Knabe nach zwei Wochen am Milchfieber gestorben war, legte er ihn selbst in einen kleinen Sarg und schaute ihn tief bekümmert an. Und als das kleine flache Grab zugeschüttet war, fiel er auf die Knie und verbeugte sich vor dem kleinen Hügel bis zur Erde. Seitdem sprach er viele Jahre lang nicht ein einziges Mal von seinem Kindchen, und auch Marfa Ignatjewna erwähnte es in Gegenwart ihres Mannes nie; und wenn es sich traf, daß sie mit jemand von ihrem »Kleinchen« sprach, so nur im Flüsterton, auch wenn Grigori Wassiljewitsch nicht dabei war. Wie Marfa Ignatewna wahrnahm, begann er sich schon am Begräbnistag vorzugsweise mit »göttlichen Dingen« zu beschäftigen; er las die Lebensbeschreibungen der Heiligen, meist schweigend und allein, wobei er jedesmal seine silberne Brille mit den großen, runden Gläsern aufsetzte. Nur selten las er laut, höchstens in den Großen Fasten. Er liebte das Buch Hiob; auch hatte er sich irgendwoher eine geschriebene Sammlung von Aussprüchen und Predigten »unseres von Gott erleuchteten Vaters Isaak Syrer« verschafft und las darin beharrlich viele Jahre lang, obwohl er so gut wie nichts davon verstand, aber vielleicht schätzte und liebte er dieses Buch gerade deshalb um so mehr. In der allerletzten Zeit hatte er angefangen, sich mit der Sekte der Geißler bekannt zu machen, wozu sich in der Nachbarschaft Gelegenheit bot. Er war davon augenscheinlich tief erschüttert, hielt es aber doch nicht für ratsam, zu einem neuen Glauben überzugehen. Seine Beschäftigung mit »göttlichen Dingen« verlieh seinem Gesicht natürlich den Ausdruck noch größerer Würde.

      Vielleicht neigte er zum Mystizismus. Und da fielen die Geburt seines sechsfingrigen Knaben und dessen Tod ausgerechnet mit einem anderen seltsamen, unerwarteten und eigenartigen Ereignis zusammen, das in seiner Seele, wie er sich später einmal selbst ausdrückte, einen »Abdruck« hinterließ. Gerade an dem Tag, da das sechsfingrige Würmchen begraben war, erwachte nämlich Marfa Ignatjewna mitten in der Nacht und glaubte das Weinen eines neugeborenen Kindes zu hören. Sie erschrak und weckte ihren Mann. Dieser horchte und meinte, da stöhne wohl jemand, vermutlich ein Weib. Er stand auf und zog sich an; es war eine warme Mainacht. Als er vor die Haustür trat, hörte er deutlich, daß das Stöhnen aus dem Garten kam. Aber die Tür vom Hof zum Garten wurde nachts immer verschlossen, und in den Garten anders als durch diesen Eingang zu gelangen war nicht möglich, weil den ganzen Garten ein starker, hoher Plankenzaun umgab. Grigori kehrte in das Haus zurück, zündete die Laterne an, nahm den Gartenschlüssel und ging schweigend in den Garten, ohne sich um die Angst seiner Frau zu kümmern, die immer noch glaubte, sie höre das Weinen eines Kindes und da weine bestimmt ihr Knabe und rufe nach ihr. Dort hörte er deutlich, daß das Stöhnen aus ihrem Badehäuschen kam, welches im Garten nahe bei der kleinen Pforte stand, und daß es wirklich eine Frau war, die da stöhne. Er öffnete das Badehäuschen und erblickte ein Schauspiel, das ihn erstarren ließ. Eine stadtbekannte Irrsinnige, die sich auf den Straßen herumzutreiben pflegte und Lisaweta die Stinkende genannt wurde, hatte sich Eingang in das Badehäuschen verschafft und soeben ein Kind geboren. Das Kind lag neben ihr, sie lag im Sterben. Sie redete nichts, schon deswegen nicht, weil sie überhaupt nicht reden konnte. Aber das alles bedarf einer besonderen Erläuterung.

      1 Bauernbefreiung: Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1861

      2. Lisaweta die Stinkende

      Es gab da einen besonderen Umstand, der Grigori tief erschütterte und ihn endgültig in einem unangenehmen, ekelhaften Verdacht von früher bestärkte. Diese Lisaweta die Stinkende, zwanzig Jahre alt, war ein sehr kleines Mädchen »wenig mehr als zwei Arschin1 groß«, wie sie nach ihrem Tode viele gottesfürchtige alte Weiblein unserer Stadt beschrieben haben. Ihr gesundes, breites, rotbackiges Gesicht war völlig schwachsinnig, ihre Augen blickten starr und unangenehm, allerdings friedlich. Sie ging ihr ganzes Leben lang, im Sommer und im Winter, barfuß und nur in einem Leinenhemd. Ihr fast schwarzes, sehr dichtes Haar war kraus wie bei einem Schaf und bildete auf ihrem Kopf eine Art Mütze. Außerdem war dieses Haar immer voller Erde, Schmutz, Blättchen und Spänchen, weil sie ständig auf der Erde und im Schmutz schlief. Ihr Vater war ein heruntergekommener, siecher Kleinbürger namens Ilja, der stark trank, kein eigenes Haus hatte und schon seit vielen Jahren als Arbeiter bei einem wohlhabenden Kleinbürger unserer Stadt lebte. Lisawetas Mutter war schon lange tot. Der stets kränkliche, bösartige Ilja schlug Lisaweta jedesmal, wenn sie nach Hause kam, in unmenschlicher Weise. Aber sie kam nur selten, da sie sich als irres und nach der Meinung des Volkes

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