Der Jüngling. Fjodor Dostojewski
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Jüngling - Fjodor Dostojewski страница 17
»Erlaube mal, Dergatschew, das kann man nicht so behaupten«, fiel Tichomirow wieder ungeduldig ein, und Dergatschew überließ ihm sofort das Wort. »In Anbetracht dessen, daß Krafft ernste Studien gemacht, seine Schlüsse, denen er eine mathematische Sicherheit zuerkennt, auf physiologischen Tatsachen aufgebaut und vielleicht zwei Jahre auf seine Idee verwandt hat (die ich in aller Seelenruhe a priori annehmen würde), in Anbetracht dessen, das heißt in Anbetracht der ernsten seelischen Erregung Kraffts, stellt sich diese Sache geradezu als ein Phänomen dar. Aus alledem resultiert eine Frage, die Krafft nicht verstehen kann, und eben mit dieser müssen wir uns beschäftigen, das heißt mit Kraffts Verständnislosigkeit, denn das ist das Phänomen. Es muß entschieden werden, ob dieses Phänomen als Einzelfall in die Klinik gehört oder eine Eigenschaft ist, die sich bei anderen auf normalem Wege wiederholen kann; das ist interessant im Hinblick auf die gemeinsame Sache. Kraffts Ansicht über Rußland halte ich für richtig und möchte sogar sagen, daß ich mich darüber freue; wenn sich alle diese Ansicht zu eigen machten, so würde sie vielen die Hände losbinden und sie von patriotischen Vorurteilen befreien ...«
»Ich habe mich dabei nicht von Patriotismus leiten lassen«, sagte Krafft wie mit Überwindung. Alle diese Debatten schienen ihm unangenehm zu sein.
»Patriotismus oder nicht, das kann man beiseite lassen«, bemerkte der sehr schweigsame Wassin.
»Aber sagen Sie nur, inwiefern könnte denn Kraffts Schlußfolgerung den Eifer für die Sache der ganzen Menschheit abschwächen?« schrie der Lehrer (er war der einzige, welcher schrie; alle übrigen sprachen leise). »Mag auch Rußland zu einer Stellung zweiten Ranges verurteilt sein; man kann doch auch noch andere Arbeit leisten als nur für Rußland. Und außerdem, wie kann denn Krafft ein Patriot sein, wenn er nicht mehr an Rußland glaubt?«
»Dafür ist er eben ein Deutscher«, ließ sich wieder eine Stimme vernehmen.
»Ich bin Russe«, sagte Krafft.
»Das ist eine Frage, die nicht in direkter Beziehung zur Sache steht«, bemerkte Dergatschew auf den Zwischenruf.
»Treten Sie aus der Enge Ihrer Idee heraus«, fuhr Tichomirow, ohne auf etwas hinzuhören, fort. »Wenn Rußland nur Material für edlere Volksstämme ist, warum soll es dann nicht als solches Material dienen? Das ist doch eine ganz achtbare Rolle. Warum soll man sich im Hinblick auf die Erweiterung der Aufgaben nicht mit dieser Idee zufriedengeben? Die Menschheit steht am Vorabend ihrer Wiedergeburt, die bereits begonnen hat. Nur Blinde können die uns bevorstehende Aufgabe ableugnen. Laßt Rußland fahren, wenn ihr an seine Zukunft nicht mehr glaubt, und arbeitet für ein zukünftiges, für ein noch unbekanntes Volk, das aber aus der ganzen Menschheit ohne Unterschied der Volksstämme bestehen wird. Auch ohne das würde Rußland irgendwann sterben; die Völker, selbst die begabtesten, leben nur anderthalb, höchstens zwei Jahrtausende; ist es da nicht ganz gleich, ob es zweitausend oder zweihundert Jahre sind? Die Römer haben nicht einmal anderthalb Jahrtausende wahrhaft gelebt und sich dann ebenfalls in Material verwandelt. Sie existieren schon längst nicht mehr, aber sie haben eine Idee hinterlassen, die als Element des Künftigen in die Geschicke der Menschheit eingegangen ist. Wie kann jemand nur sagen, es sei zwecklos, etwas zu tun! Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der es jemals zwecklos wäre, etwas zu tun! Arbeitet für die Menschheit und macht euch um alles übrige keine Sorgen! Arbeit gibt es so viel, daß unser ganzes Leben dazu nicht ausreicht, wenn man sich nur aufmerksam umsieht.«
»Man muß nach dem Gesetz der Natur und der Wahrheit leben«, sagte hinter der Tür Frau Dergatschewa. Die Tür war ein wenig geöffnet; und man konnte sehen, daß sie, das Kind an der Brust haltend, mit zugedeckter Brust dastand und eifrig zuhörte.
Krafft hatte alles mit leisem Lächeln angehört und sagte nun endlich mit etwas gequältem Gesichtsausdruck, aber mit voller Aufrichtigkeit:
»Ich verstehe nicht, wie jemand, der unter der Einwirkung eines beherrschenden Gedankens steht, dem sich Verstand und Herz völlig unterordnen, wie ein solcher für irgend etwas außerhalb dieses Gedankens Liegendes leben kann.«
»Aber wenn man Ihnen logisch und mathematisch beweist, daß Ihr Schluß irrig ist, daß der ganze Gedanke irrig ist, daß Sie nicht das geringste Recht haben, sich von der gemeinsamen nützlichen Tätigkeit nur deswegen auszuschließen, weil Rußland zu einer Stellung zweiten Ranges prädestiniert ist; wenn man Ihnen zeigt, daß sich Ihnen statt des engen Horizonts die Unendlichkeit erschließt, daß statt der engen Idee des Patriotismus ...«
»Ach!« unterbrach ihn Krafft mit einer leise abwehrenden Handbewegung, »ich habe Ihnen ja gesagt, daß es sich dabei nicht um Patriotismus handelt.«
»Hier liegt offenbar ein Mißverständnis vor«, mischte sich plötzlich Wassin in das Gespräch. »Der Fehler besteht darin, daß Kraffts Schluß nicht lediglich ein logischer Schluß ist, sondern sozusagen ein Schluß, der sich in ein Gefühl verwandelt hat. Nicht alle Naturen sind von gleicher Art; bei vielen Menschen verwandelt sich ein logischer Schluß manchmal in ein sehr starkes Gefühl, welches das ganze Wesen ergreift und welches zu vertreiben oder umzugestalten sehr schwer ist. Will man einen solchen Menschen kurieren, so muß man in einem derartigen Fall das Gefühl selbst verändern, was nur dadurch möglich ist, daß man es durch ein anderes, gleich starkes ersetzt. Das ist immer schwer und in vielen Fällen unmöglich.«
»Ein Irrtum!« schrie der streitsüchtige Opponent. »Ein logischer Schluß vertreibt ohne weiteres die vorgefaßten Meinungen. Die verstandesmäßige Überzeugung gebiert das entsprechende Gefühl. Der Gedanke geht aus dem Gefühl hervor und formuliert seinerseits, sobald er sich im Menschen festgesetzt hat, ein neues!«
»Die Menschen sind sehr verschiedenartig: die einen wechseln ihre Gefühle leicht, die andern schwer«, antwortete Wassin in einem Ton, als wünsche er die Debatte nicht weiter fortzusetzen; aber ich war entzückt von seinem Gedanken.
»Es verhält sich genauso, wie Sie gesagt haben!« Mit diesen Worten wandte ich mich auf einmal an ihn; das Eis des Schweigens war bei mir gebrochen, und ich begann plötzlich zu reden. »Ganz richtig, an Stelle des einen Gefühles muß man ein anderes hervorrufen, um das erstere zu ersetzen. In Moskau lebte vor vier Jahren ein General ... Sehen Sie, meine Herren, ich habe ihn nicht gekannt, aber ... Vielleicht konnte er auch durch seine Persönlichkeit keine besondere Hochachtung erwecken ... Und außerdem konnte auch sein Verhalten selbst unverständig erscheinen, aber ... Also, sehen Sie, es starb ihm ein kleines Kind, das heißt, eigentlich zwei kleine Mädchen, eins nach dem anderen, am Scharlach ... Und was sagen Sie dazu: das schmetterte ihn so nieder, daß er sich ganz seiner Traurigkeit überließ, dermaßen, daß es gar nicht anzusehen war, – und es endete damit, daß er starb, ein halbes Jahr darauf. Daß dies die Ursache seines Todes war, steht fest! Wodurch hätte man ihn also wieder aufrichten können? Antwort: durch ein gleich starkes Gefühl! Man hätte diese beiden kleinen Mädchen aus dem Grab herausholen und ihm wiedergeben müssen – das war das Ganze; das heißt, so etwas Ähnliches hätte man tun müssen. So starb er denn. Und dabei hätte man ihm die schönsten Schlüsse vorführen können: daß das Leben schnell vergeht und daß alle Menschen sterblich sind, und man hätte ihm aus dem Kalender die statistischen Angaben vor Augen halten können, wie viele Kinder am Scharlach sterben ... Er war pensioniert ...«
Ganz außer Atem hielt ich inne und sah mich rings um.
»Das gehört gar nicht hierher«, sagte jemand.
»Der von Ihnen angeführte Vorgang ist zwar mit dem vorliegenden Fall nicht gleichartig, hat aber doch einige Ähnlichkeit mit ihm und trägt zum besseren Verständnis der Sache bei«, sagte Wassin, sich zu