Der Jüngling. Fjodor Dostojewski
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Читать онлайн книгу Der Jüngling - Fjodor Dostojewski страница 35
»Diese Leute lieben vielleicht die Erholung, aber nicht den Müßiggang.«
»Nein, gerade den Müßiggang, das völlige Nichtstun, das ist ihr Ideal! Ich habe einen Menschen gekannt, der lebenslänglich arbeiten mußte, obwohl er nicht zum Volk gehörte; er besaß einen ziemlich entwickelten Verstand und einen Blick für das Allgemeine. Der gab sich sein ganzes Leben hindurch, vielleicht täglich, mit Genuß und Rührung seinen Träumereien vom völligen Müßiggang hin; er malte sich sozusagen sein Ideal bis zur höchsten Vollendung aus, bis zu unbegrenzter Unabhängigkeit und ewiger Freiheit, zu träumen und müßig zu reflektieren. So ging das mit ihm, bis er unter der Arbeit vollständig zusammenbrach; zu helfen war ihm nicht, er starb im Krankenhaus. Ich bin manchmal allen Ernstes geneigt, zu glauben, daß der angebliche Genuß, den die Arbeit gewährt, eine Erfindung müßiger Leute ist, natürlich tugendhafter Leute. Das ist eine der ›Genfer Ideen‹ vom Ende des vorigen Jahrhunderts. Tatjana Pawlowna, vorgestern habe ich mir aus einer Zeitung eine Annonce ausgeschnitten, da ist sie« (er zog ein Blättchen Papier aus der Westentasche), »das stammt von den unzähligen ›Studenten‹, die die alten Sprachen und Mathematik verstehen und bereit sind, zur Erteilung von Unterricht ›nach auswärts‹ zu gehen oder in eine Dachstube oder sonstwohin. Also hören Sie: ›Eine Lehrerin bereitet zum Eintritt in alle Lehranstalten vor‹ (hören Sie: in alle!) ›und gibt auch Rechenunterricht‹, – das ist nur eine Zeile, aber sie ist klassisch! Sie bereitet zum Eintritt in alle Lehranstalten vor, also natürlich doch auch im Rechnen? Nein, vom Rechnen spricht sie besonders. Das ist schon der richtige Hunger, das ist schon der höchste Grad der Not. Rührend ist dabei gerade diese Unkenntnis: offenbar hat sie sich niemals zur Lehrerin ausgebildet und dürfte kaum imstande sein, in irgendeinem Fach zu unterrichten. Aber vor dem Ertrinken trägt sie ihren letzten Rubel in die Zeitungsexpedition und läßt einsetzen, daß sie für alle Unterrichtsanstalten vorbereite und außerdem Rechenstunde gebe. Per tutto mundo e in altri siti.«
»Ach, Andrej Petrowitsch, der sollte man helfen! Wo wohnt sie?« rief Tatjana Pawlowna.
»Ach, deren gibt es eine Menge!« Er schob die Annonce wieder in die Tasche. »In diesem Paket sind lauter Näschereien, für dich, Lisa, und für Sie, Tatjana Pawlowna; Sofja und ich lieben keine Süßigkeiten. Vielleicht ist es auch für dich etwas, junger Mann. Ich habe alles selbst bei Jelissejew und bei Ballet eingekauft. Wir haben lange genug ›am Hungertuche genagt‹, wie Lukerja sagt.« (NB Keiner von uns hatte jemals wirklich gehungert.) »Hier sind Weintrauben, Konfekt, Duchessebirnen und Erdbeertorte; sogar einen ausgezeichneten Likör habe ich mitgebracht, auch Nüsse. Merkwürdig, daß ich bis auf den heutigen Tag, von meiner Kindheit an, gern Nüsse esse, Tatjana Pawlowna, und zwar die gewöhnlichste Sorte, wissen Sie. Lisa schlägt darin nach mir; sie liebt es ebenfalls, wie ein Eichhörnchen Nüsse zu knacken. Aber es gibt nichts Reizvolleres, Tatjana Pawlowna, als sich manchmal, wenn man an seine Kindheit zurückdenkt, unversehens für einige Augenblicke in den Wald zu versetzen, ins Gebüsch, wo man sich selbst Nüsse pflückt... Die Tage sind schon beinah herbstlich, aber klar und manchmal so frisch; man versteckt sich im Dickicht oder streift im Wald umher, es riecht nach Blättern ... Ich sehe eine Art Zustimmung in deinem Blick, Arkadij Makarowitsch?«
»Ich habe meine ersten Kinderjahre ebenfalls auf dem Lande verlebt.«
»Wie? Du bist doch wohl in Moskau gewesen... wenn ich nicht irre.«
»Er wohnte damals bei Andronikows in Moskau, als Sie hinkamen, aber vorher hatte er bei Ihrer seligen Tante Warwara Stepanowna auf dem Lande gelebt«, fiel Tatjana Pawlowna ein.
»Da ist Geld, Sofja, verwahre es! In den nächsten Tagen soll ich fünftausend bekommen.«
»Also haben die Fürsten gar keine Hoffnung mehr?« fragte Tatjana Pawlowna.
»Absolut keine, Tatjana Pawlowna.«
»Ich habe Ihnen, Andrej Petrowitsch, und allen Ihren Angehörigen immer alles Gute gewünscht und bin eine Freundin des Hauses gewesen; aber obwohl mir die Fürsten fremd sind, tun sie mir, weiß Gott, doch leid. Seien Sie mir deswegen nicht böse, Andrej Petrowitsch!«
»Ich beabsichtige nicht, mit ihnen zu teilen, Tatjana Pawlowna.«
»Sie kennen ja meine Ansicht darüber, Andrej Petrowitsch; die Fürsten hätten den Prozeß unterlassen, wenn Sie ihnen gleich zu Anfang eine Teilung zu gleichen Teilen vorgeschlagen hätten; jetzt ist es natürlich zu spät dazu. Übrigens wage ich nicht, darüber zu urteilen... Ich sage es nur deshalb, weil der Verstorbene sie in seinem Testament gewiß nicht übergangen hätte.«
»Er hätte sie nicht nur nicht übergangen, sondern sicherlich ihnen alles hinterlassen und nur mich übergangen, wenn er es verstanden hätte, die Sache zu regeln und das Testament aufzusetzen, wie es sich gehört; aber jetzt ist das Gesetz auf meiner Seite – und damit basta! Teilen kann und will ich nicht, Tatjana Pawlowna. Die Sache ist erledigt.«
Er sagte das sogar mit einem gewissen Ingrimm, was bei ihm nur selten vorkam. Tatjana Pawlowna verstummte. Meine Mutter schlug traurig die Augen nieder: Wersilow wußte, daß sie Tatjana Pawlownas Ansicht billigte.
›Das ist wie eine Emser Ohrfeige!‹ dachte ich im stillen. Dem Schriftstück, das mir Krafft eingehändigt hatte und das in meiner Tasche steckte, wäre ein trauriges Los beschieden gewesen, wenn es ihm in die Hände gefallen wäre. Ich fühlte auf einmal, daß ich all das noch auf dem Halse hatte; dieser Gedanke, in Verbindung mit allem übrigen, wirkte auf mich aufreizend.
»Arkadij, es wäre mir lieb, wenn du dich ein bißchen besser kleidetest, mein Freund; du bist ja nicht schlecht angezogen, aber für die Zukunft könnte ich dir einen guten französischen Schneider empfehlen, der gewissenhaft und geschmackvoll arbeitet.«
»Ich bitte Sie, mir nie wieder solche Vorschläge zu machen«, rief ich heftig.
»Was hast du denn?«
»Ich finde natürlich nichts Kränkendes darin, aber wir beide harmonieren überhaupt nicht in unserer Denkweise, sondern haben vielmehr recht verschiedene Ansichten. So werde ich in den nächsten Tagen, schon morgen, aufhören, zum Fürsten zu gehen, weil ich sehe, daß da nicht das geringste für mich zu tun ist ...«
»Aber eben darin, daß du hingehst und bei ihm sitzt, besteht deine Tätigkeit.«
»Eine solche Auffassung ist für mich herabwürdigend.«
»Das verstehe ich nicht; übrigens, wenn du so zartfühlend bist, so nimm doch von ihm kein Geld an, sondern geh bloß so hin! Du würdest ihn durch dein Fortbleiben furchtbar kränken; er hat dich schon liebgewonnen, das kannst du glauben ... Indessen, wie du willst ...«
Die Sache war ihm augenscheinlich unangenehm.
»Sie sagen, ich sollte ihn nicht um Geld bitten, aber Ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich heute bereits eine Gemeinheit begangen habe: Sie haben mir vorher nicht abgeraten, und so habe ich heute von ihm das Gehalt für einen Monat gefordert.«
»Also hast du die Angelegenheit bereits geordnet; ich hatte, wie ich gestehen muß, gemeint, du würdest nicht darum bitten; was seid ihr doch alle jetzt für geschickte Leute! Es gibt heutzutage keine Jugend mehr, Tatjana Pawlowna.«
Er ärgerte sich sehr; ich war ebenfalls furchtbar zornig.
»Ich mußte doch meine Rechnung mit Ihnen