Der Jüngling. Fjodor Dostojewski
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»Mon cher, du könntest ...«
»Oh, seien Sie unbesorgt, seien Sie unbesorgt«, unterbrach ich ihn; »ich will nur ein bißchen von Touchard erzählen. Sie antworteten ihm vierzehn Tage darauf schon aus der Provinz, Tatjana Pawlowna, und schlugen es ihm rundweg ab. Ich erinnere mich, wie er damals mit dunkelrotem Kopf in unser Klassenzimmer hereinkam. Er war ein sehr kleiner, sehr stämmiger Franzose, etwa fünfundvierzig Jahre alt, und stammte tatsächlich aus Paris, wo er Schuster gewesen war, aber er war schon seit undenklichen Zeiten in Moskau an einer staatlichen Anstalt als Lehrer des Französischen angestellt und hatte sogar einen ziemlich hohen Rang, auf den er nicht wenig stolz war – ein ganz ungebildeter Mensch. Zöglinge waren wir bei ihm nur sechs, von denen einer wirklich der Neffe eines Moskauer Senators war, und wir lebten alle bei ihm ganz wie Mitglieder der Familie, im wesentlichen unter der Aufsicht seiner Frau, einer sehr affektierten Dame, der Tochter eines russischen Beamten. Ich hatte in diesen paar Wochen meinen Kameraden gegenüber sehr großgetan und mich mit meinem blauen Rock und mit meinem Papa Andrej Petrowitsch gebrüstet, und ihre Fragen, warum ich Dolgorukij hieße und nicht Wersilow, hatten mich nicht in Verlegenheit gesetzt, weil ich den Grund eben selbst nicht kannte.«
»Andrej Petrowitsch!« rief Tatjana Pawlowna in beinahe drohendem Ton. Meine Mutter dagegen folgte meiner Erzählung mit der größten Teilnahme und wünschte offenbar, daß ich fortfahren möchte.
»Ce Touchard ..., ich erinnere mich jetzt tatsächlich, daß er so ein kleiner, beweglicher Kerl war«, sagte Wersilow langsam, »aber er war mir damals von durchaus vertrauenswürdiger Seite empfohlen worden ...«
»Ce Touchard kam mit dem Brief in der Hand herein, trat an unseren großen eichenen Tisch, an dem wir alle sechs irgend etwas büffelten, faßte mich derb an der Schulter, riß mich von meinem Stuhl in die Höhe und befahl mir, meine Hefte zu nehmen.
»Dein Platz ist nicht hier, sondern dort!« schrie er und wies mich in ein winzig kleines Zimmerchen links vom Vorzimmer, wo nur ein einfacher Tisch, ein Rohrstuhl und ein mit Wachstuch überzogenes Sofa standen – genauso, wie jetzt bei mir oben in meinem Giebelzimmer. Erstaunt und höchst verschüchtert ging ich hinüber; ich war noch nie von jemand so grob behandelt worden. Eine halbe Stunde darauf, als Touchard das Klassenzimmer verlassen hatte, begann ich mit meinen Kameraden Blicke zu wechseln, und wir lachten uns gegenseitig an; natürlich lachten sie über mich, aber ich merkte das nicht und dachte, wir lachten einfach, weil wir vergnügt wären. Da kam plötzlich Touchard herbeigestürzt, packte mich am Haar und riß mich heftig davon.
»Untersteh dich nicht, dich zu anständigen Kindern hinzusetzen; du bist von schlechter Herkunft und nicht besser als ein Lakai!«
Nach diesen Worten schlug er mich schmerzhaft auf meine volle, rote Backe. Das machte ihm sofort Vergnügen, und er schlug mich zum zweiten und zum dritten Mal. Ich weinte und schluchzte, ich war furchtbar erstaunt. Eine ganze Stunde lang saß ich da, das Gesicht mit den Händen, bedeckend, und weinte und weinte. Es war etwas geschehen, was ich absolut nicht begreifen konnte. Ich begriff nicht, wie ein eigentlich nicht boshafter Mensch wie Touchard, ein Ausländer, der sich sogar über die Befreiung der russischen Bauern gefreut hatte, einen so dummen kleinen Jungen wie mich hatte schlagen können. Übrigens war ich nur erstaunt, fühlte mich aber nicht beleidigt; mich beleidigt zu fühlen, das verstand ich noch nicht. Ich meinte, ich hätte irgendeine Unart begangen; wenn ich aber wieder artig wäre, so würde mir verziehen werden, und wir würden wieder alle vergnügt sein und auf den Hof gehen, um da zu spielen, und das schönste Leben führen, das man sich nur denken kann.«
»Wenn ich davon nur etwas gewußt hatte, mein Freund ...«, sagte Wersilow gedehnt mit dem lässigen Lächeln eines etwas ermüdeten Menschen. »Aber was ist dieser Touchard für eine Kanaille gewesen! Ich gebe jedoch noch nicht die Hoffnung auf, daß du deinem Herzen einen Stoß geben und uns schließlich das alles verzeihen wirst und wir dann wieder das schönste Leben führen werden, das man sich nur denken kann.«
Er gähnte nun deutlich.
»Ich erhebe ja gar keine Beschuldigungen, durchaus nicht, und glauben Sie mir, ich beklage mich auch nicht über Touchard!« rief ich, einigermaßen aus dem Konzept gebracht. »Geschlagen hat er mich ungefähr zwei Monate lang. Ich erinnere mich, daß ich ihn immer irgendwie entwaffnen wollte, auf ihn zustürzte, um ihm die Hände zu küssen, und sie auch wirklich küßte, und daß ich immer weinte und weinte. Meine Kameraden lachten über mich und verachteten mich, weil Touchard anfing, mich manchmal wie einen Bedienten zu gebrauchen, und mir befahl, ihm seine Kleider hinzureichen, wenn er sich anzog. Dabei kam mir meine Bedientennatur unwillkürlich zustatten: ich gab mir die größte Mühe, es ihm recht zu machen, und fühlte mich in keiner Weise beleidigt, weil ich eben noch nichts von alledem verstand, und ich wundere mich sogar bis heute noch darüber, daß ich damals noch so dumm war, meine niedrige Stellung den andern gegenüber nicht zu begreifen. Allerdings erklärten meine Kameraden mir auch damals schon manches, es war eine nette Vorschule. Später liebte Touchard es mehr, mich von hinten mit dem Knie zu stoßen als mir ins Gesicht zu schlagen, und nach einem halben Jahr war er mitunter sogar freundlich zu mir; nur ab und zu, aber sicher einmal im Monat, schlug er mich noch, zur Erinnerung, damit ich nicht vergäße, wer ich sei. Auch durfte ich bald wieder mit den andern Knaben zusammensitzen und mit ihnen spielen; aber nicht ein einziges Mal in den ganzen zweieinhalb Jahren vergaß Touchard den Unterschied unserer sozialen Stellung und gebrauchte mich, wenn auch nicht in starkem Maße, aber doch immer noch beständig zu allerlei Dienstleistungen, und zwar – wie ich glaube –, um meinem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen.
Daß ich aber entfloh, das heißt, daß ich entfliehen wollte, das begab sich erst fünf Monate nach diesen ersten beiden Monaten. Ich bin überhaupt mein ganzes Leben lang immer nur schwer zu einem Entschluß gekommen. Wenn ich mich abends ins Bett gelegt und die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte, begann meine Phantasie sich sofort mit Ihnen zu beschäftigen, Andrej Petrowitsch, nur mit Ihnen; ich weiß absolut nicht, warum das der Fall war. Ich träumte sogar von Ihnen. Ganz besonders malte ich es mir immer leidenschaftlich aus, wie Sie auf einmal hereintreten würden und ich auf Sie losstürzen würde und Sie mich von dort wegnehmen und zu sich in jenes Zimmer bringen würden und wie wir dann wieder ins Theater fahren würden und so weiter. Die Hauptsache war, daß wir uns nie wieder trennen würden – das war mir die Hauptsache! Wenn ich aber am Morgen wieder aufwachte, dann begannen auch sogleich von neuem die Spöttereien und das Verächtlichmachen durch die anderen Knaben; einer von ihnen hatte es sich geradezu zur Regel gemacht, mich zu prügeln, und zwang mich, ihm beim Anziehen der Stiefel behilflich zu sein; er belegte mich mit den häßlichsten Schimpfnamen und bemühte sich besonders, mir meine Herkunft klarzumachen, zum großen Vergnügen aller Zuhörer. Wenn aber endlich Touchard selbst erschien, dann wurde mir unerträglich weh ums Herz. Ich fühlte, daß mir hier nie Verzeihung zuteil werden würde, – oh, ich begann schon allmählich zu begreifen, was man mir nicht verzieh und worin eigentlich mein Verschulden bestand! Und da kam ich schließlich auf den Gedanken zu fliehen. Ganze zwei Monate beschäftigte ich mich mit diesem Gedanken, endlich faßte ich einen Entschluß; das war im September. Ich wartete die Zeit ab, wo am Sonnabend alle meine Mitschüler für den Sonntag weggefahren waren, und packte unterdessen heimlich und sorgsam die notwendigsten Sachen in ein Bündelchen; an Geld besaß ich zwei Rubel. Ich wollte warten, bis es dunkel wurde. ›Ich steige die Treppe hinunter‹; dachte ich, ›und gehe aus dem Hause, und dann gehe ich davon.‹ Wohin? Ich wußte, daß Andronikow schon nach Petersburg versetzt war, und beschloß, Frau Fanariotowas