Genesis IV. Alfred Broi
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Kalipos schaute sie fasziniert an, dann jedoch überwog sein Unverständnis. Er verzog den Mund. „Na, wie du meinst!“ raunte er und schaute wieder aus der Felsspalte auf die Ebene unter ihnen.
Melia hob den Kopf und ihr Blick weichte auf. „Es tut mir leid. Ich will mich nicht mit dir streiten. Du hättest mich nur nicht schlafen lassen sollen. Du hättest doch auch gar nicht mitkommen müssen. Du kannst doch selbst Ruhe gebrauchen!“
Kalipos nickte mit einem leichten Lächeln. „Das stimmt wohl. Aber Erstens schlafe ich in der Nacht!“ Er schaute Melia an, doch deren Blick war skeptisch. Mit einem weiteren Lächeln fügte er daher hinzu. „Na ja, zumindest weitaus öfter als du! Und Zweitens ist die Regel, dass man immer einen Partner hier bei sich hat! Und nur, weil Munipol sich das Bein verletzt hat und dich heute nicht begleiten konnte, heißt das nicht, dass du allein gehen durftest!“
Damit hatte Kalipos natürlich Recht. Immer zwei Personen hielten hier Wache. Rund um die Uhr. Nach vier Stunden erfolgte eine Ablösung. Entsprechend hielten innerhalb eines Tages sechs Paare a zwei Personen Wache. Gemessen an der Gesamtstärke der Gruppe, abzüglich derer, die nicht konnten oder noch zu jung dazu waren, kam jeder von ihnen etwa alle vier Tage an die Reihe. Und Melia wusste das alles sehr genau.
„Aber...!“ begann sie dennoch.
Doch Kalipos unterbrach sie sogleich wieder. „Ich bin nur heute mitgekommen. Ihr habt mich zum Gruppenführer ernannt und ich bin deshalb von dieser Aufgabe hier ausgeklammert. Aber ich kann ja wohl mal einspringen, wenn Jemand verhindert ist, oder? Morgen haben wir den Plan umgestellt und dann brauchst du mich nicht mehr zu ertragen!“ Seine Stimme klang mürrisch, doch ihr Tonfall zeigte, dass er es nicht so ernst meinte.
„So habe ich das nicht gemeint!“ verteidigte sich Melia mit dünner Stimme.
Kalipos lächelte ihr zu. „Ich weiß!“
„Außerdem bin ich doch gar nicht allein!“ Sie grinste kurz. „Chalek ist doch bei mir!“ Sie deutete mit dem Kopf in die andere Ecke der kleinen Höhle, wo sie noch vor wenigen Minuten geschlafen hatte.
„Ja...!“ Kalipos nickte. „...der Junge ist überaus anhänglich und immer da, wo du auch bist!“
Melia nickte mit einem weiteren Lächeln.
Doch plötzlich grinste Kalipos diebisch. „Zumindest so lange es ihn nicht wieder mal auf Entdeckungstour zieht!“
„Was?“ Melia wusste sofort, was Kalipos meinte. Mit einem entsetzten Gesichtsausdruck sprang sie auf und wollte schon die Höhle durchqueren.
„Er ist weg!“ Kalipos verzog seine Mundwinkel. „Schon seit einer knappen Stunde!“
„Aber...!“ Mittlerweile war Melia so dicht an der Schlafstätte des Jungen herangekommen, dass sie die zerwühlte Decke ohne Körper darunter sehen konnte. „Warum hast du das nicht verhindert? Du weißt doch, dass er nicht herumstreichen soll!“
Kalipos grinste ohne Freude. „Erstens bin ich nicht sein Babysitter. Zweitens habe ich hier etwas Wichtigeres zu tun, als mich um den Jungen zu kümmern. Drittens könnte man ihn wahrscheinlich nicht mal davon abhalten, selbst wenn man ihn festbinden würde...!“ Er wartete, bis Melia sich wieder zu ihm herumgedreht hatte, damit er ihr direkt in die Augen schauen konnte. „Ich habe ein Auge auf ihn gehabt und war mir sicher, er würde schlafen. Als ich zu ihm geschaut habe, lag er still unter der Decke. Zwei Minuten später war er schon weg. Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat, sich an mir vorbei aus der Höhle zu schleichen!“
„Aber du hättest...!“
„Was? Ihm folgen sollen und damit meinen Posten verlassen?“ Er schüttelte den Kopf. „Katastrophen geschehen immer genau dann, wenn man sie nicht erwartet!“
„Du hättest mich wecken können!“
Kalipos nickte. „Ja, hätte ich. Und was dann? Du hättest dich auf die Suche nach ihm begeben und ihn am Ende doch nur dann gefunden, wenn er es gewollt hätte!“ Er grinste kurz. „Chalek kennt sich hier besser aus, als wir alle zusammen. Es ist fast so, als könne er mit der Umgebung verschmelzen!“
Melia schaute ihr Gegenüber eine Zeitlang an. Dabei schien es, als wolle sie etwas erwidern, doch sie blieb stumm. Stattdessen wandelte sich ihr ernster Blick in weiche Erkenntnis. Schließlich nickte sie. „Wie dem auch sei. Ich kann nicht ruhig bleiben, wenn ich nicht weiß, wo er ist. Ich werde ihn jetzt suchen!“
Kalipos nickte. „Was immer du willst!“ Er schaute Melia hinterher, wie sie zum Ausgang der Höhle ging. „Aber denke daran, dass unsere Wache nur noch eine knappe Stunde andauert. Danach bin ich weg!“
Melia wandte sich nochmals zu ihm um. Im fahlen Licht der Kristalle wirkte ihr Gesicht alt und kraftlos. Sie nickte. „Wir werden rechtzeitig zurück sein!“ Dann drehte sie sich um und verließ die Höhle.
Kalipos sah ihr noch einen Moment nach. Dabei verschwand sein Lächeln und sein Blick wurde ernst und hart. „Der Stein wird dich noch umbringen!“ meinte er leise zu sich selbst. „Aber der Junge wir noch unser aller Tod sein!“ Dann wandte er sich mit einem Brummen zurück zur Felsspalte und starrte hinaus auf die Ebene.
Nachdem Melia die Höhle verlassen hatte, entfernte sie sich zunächst ein wenig vom Rand des Hochplateaus, bis sie sicher war, dass man sie aus der anderen Richtung nicht mehr sehen konnte. Erst dann huschte sie über die große, flache, leicht abfallende Felsplatte hinter eine zerklüftete, senkrecht aufragende Felswand.
Obwohl um sie herum alles dunkel war, spürte sie eine unangenehme Nervosität in sich. Ihr Blick zum Himmel zeigte gewaltige, dunkle Wolkentürme, die den Mond verdeckt hatten und bleiern und schwer herabdrückten. Am Horizont jedoch konnte sie einen ersten schwachen Streifen Licht erkennen, der den herannahenden Tag ankündigte. Während ein scharfer Wind um den Felsen pfiff, hörte sie im Hintergrund tiefen Donner. Der alltägliche Wahnsinn kannte natürlich auch nachts keine Ruhe und hielt den Planeten ständig in Bewegung.
Melia huschte weiter an der Felswand entlang und blickte dabei angestrengt um sich, doch konnte sie nirgendwo etwas ausmachen.
Nach ein paar Metern blieb sie stehen und atmete einmal tief durch. „Verdammt Chalek!“ sagte sie leise zu sich selbst und ihn ihrer Stimme schwang Verärgerung, aber auch deutliche Sorge mit.
Plötzlich erschien wie aus dem Nichts heraus eine dunkle Gestalt neben ihr. Als Melia sie erblickte, erschrak sie fürchterlich und stieß einen spitzen Schrei aus. Augenblicklich beschleunigte sich ihr Puls und ein Adrenalinstoß schoss unter ihre Schädeldecke.
Doch schon im nächsten Moment konnte sie den Jungen erkennen, der sie mit einem breiten, diebischen Grinsen und großen, funkelnden Augen anschaute.
„Chalek!“ Melia versuchte, ihren Atem einzufangen. „Großer Gott!“ Sie riss unwillkürlich ihre Hände vor die Brust. „Hast du mich erschreckt!“
Der Junge grinste noch breiter, was eigentlich kaum möglich schien und musste leise lachen. Ganz offensichtlich amüsierte er sich über sie und ihre Schreckhaftigkeit.
Melia atmete einige Male tief durch, dann schüttelte sie den Kopf. „Du hast deinen Spaß, was?“ fragte sie.