Als Erich H. die Schule schwänzte. Hans-Georg Schumann
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Inzwischen hatte Erich die kleine Tasse so positioniert, dass sie genau unter beiden Düsen stand. Ein Druck auf einen Knopf setzte das Mahlwerk in Gang, und etwas später begann aus den Öffnungen cremiger Espresso zu fließen.
»Die Schulpflicht verlangt, dass Schüler den Service der Lehrer in Anspruch nehmen müssen, auch wenn er miserabel ist, sonst ...«
Erich unterbrach sich, nahm die halbvolle Tasse vorsichtig auf und trug sie so zum Küchentisch, als würde er ein zerbrechliches Kleinod transportieren.
»Eine Pflicht zum Lernen, zur Bildung sollte es geben«, meinte er und nahm dann genüsslich den ersten Schluck. »Aber es muss eine Wahlpflicht sein.«
Dann schaute er ratlos in seine Espressotasse. Wie das genau aussehen sollte, wusste er nicht. Warum überhaupt machte ausgerechnet er sich Gedanken? Er würde sich niemals trauen, seine Ideen etwa in einer Konferenz oder in noch größerem Rahmen zu veröffentlichen. Und erst recht nicht an einer Bewegung teilzunehmen, die sich zum Ziel gesetzt hätte, eine neue Schule zu schaffen.
Er trank die Tasse leer und stellte sie so geräuschvoll in die Untertasse zurück, dass er darüber erschrak.
»Nein«, sagte er laut und stand auf, »Du bist nicht der Typ dafür. Du machst deinen Job, wie du ihn immer gemacht hast. Maximal noch fünf Jahre. Dann ist für dich das Thema Schule erledigt.«
Sollten doch die jungen Kollegen sich für Änderungen stark machen. Die hatten immerhin noch alles vor sich und mit dem jetzigen Schulsystem noch jahrzehntelang zu kämpfen. »Wenn überhaupt, dann hätte ich damit schon vor langer Zeit anfangen müssen.«
Unruhig lief er von der Küche ins Wohnzimmer und wieder zurück. Er wusste, dass er vor etwas nicht davonlaufen konnte. Aber er wusste nicht, was genau dieses »Etwas« war.
10
Eine Antwort darauf, warum Hoofeller die Schule schwänzte, hatte Hülya nicht bekommen. Doch sie bereute es keineswegs ihn besucht zu haben. Vielleicht würde sie sogar morgen noch einmal vorbeikommen.
Es war wohl klar, dass sie vielleicht nie erfahren würde, warum ein Lehrer wie Hoofeller einfach so nicht in die Schule ging. Aber wieso wollte sie das eigentlich wissen? Es konnte ihr doch egal sein.
Ihr fiel wieder ein, dass sie im Gespräch mit Hoofeller die Schule als schön bezeichnet hatte, dass man sich als Schülerin gern dort aufhielt. Trotz des meist überflüssigen Unterrichts. Andererseits schwänzte sie recht häufig.
Einen wirklichen Grund dafür hatte sie nicht, ebenso wie Hoofeller. Das sagte er ihr sogar auf den Kopf zu. Und was sie als Begründung anzuführen hatte, war in Wahrheit nur vorgeschoben.
Sie hatte gehofft, es würde ihr weiterhelfen, wenn sie ihn nach einem Grund für sein Fehlen fragte. Aber ihn schien es nicht zu stören, dass er einfach grundlos die Schule schwänzte.
Na ja, er hatte auch nur noch ein paar Jahre. Dann konnte er in Rente gehen, konnte die Schule Schule sein lassen. Ihn musste das Ganze doch nicht mehr so interessieren.
Sie aber hatte nicht einmal 20 Jahre Leben hinter sich. Mit 20, so schätzte sie, hätte sie bestimmt eine Lösung für ihr künftiges Leben gefunden. Und wenn nicht? Dann eben später.
Doch sie würde möglicherweise nächstes Jahr keinen Schulabschluss haben. Brauchte sie ja auch nicht, als Ehefrau von einem, der bei der Bank arbeitet und gut verdient.
Trotzdem hätte sie gern ein Abschluss. Und wenn es nur einfach so wäre. Mit einem Schulabschluss würde sie sich wohler fühlen. Denn immerhin hatte sie die Schule doch viele Jahre besucht, bis jetzt waren es bald neun. Die einfach so wegwerfen?
Ein Schulabgang ohne Abschluss nach der neunten oder zehnten Klasse war doch wie gar nicht erst hingehen. Na gut, sie konnte schreiben und lesen, sie wusste auch einiges in Mathe, beherrschte mittelmäßig Englisch als Drittsprache. Das hatte sie in dem Unterricht gelernt, der offenbar nicht überflüssig war.
Hatte sie ja auch gesagt: Nicht alles ist überflüssig. Vielleicht war sogar eine ganze Menge mehr nützlich, und man merkte es erst später?
Mit einem Mal bekam sie sogar Angst. Wenn ich jetzt sitzen bleibe, kann ich das Schuljahr nochmal wiederholen. Das war für Hülya kein Problem.
»Aber lässt mein künftiger Mann mich noch in die Schule?«, sagte sie vor sich hin, »Muss er doch, denn erstens gibt es Schulpflicht, zweitens hat er mir nichts zu sagen. Ich bestimme über mich selbst.«
Ganz sicher war sie da allerdings nicht. Sie wusste, dass nach alter Tradition der Mann das Sagen und die Frau zu folgen hatte. So jedenfalls war es immer in ihrer Familie: Ihr Vater Mahsun gab den Ton an, ihre Mutter Farida hatte nicht viel zu sagen. Außer wenn sie allein war, dann bestimmte sie über Hülya. Aber sobald ihr Vater nach Hause kam, wurde ihre Mutter zur Dienerin.
So stellte sich das ihr Vater bestimmt auch nach Hülyas Heirat mit Kemal vor. Der hätte das Sagen, und sie müsste folgen. Aber das würde nicht funktionieren. Kemal war ein netter Kerl. Für Hülya war es sicher, dass es eher umgekehrt sein würde: Sie hätte das Sagen, und Kemal durfte auch mal was sagen.
Also würde sie auch das Recht haben, selbst über ihre Ausbildung zu entscheiden. Doch die fand in der Schule statt. Dazu musste sie oft genug hingehen. Und aktiv am Unterricht teilnehmen.
Was sprach dagegen, wenn sie ihren Aufenthalt in dieser Schule noch ein wenig verlängerte? Mit neuen Schülern würde sie keine Probleme haben. Und sie wäre dann auch diesen lästigen Urban los.
Geld zu verdienen gab es in der Schule nicht, sondern nur im richtigen Leben. Da hatte Hoofeller recht. Doch als Ehefrau eines Bankmanns hatte sie es nicht nötig, Geld zu verdienen.
Sie stutzte. Was sollte eigentlich der Satz von Hoofeller: »Ich als Lehrer möchte mit keinem Schüler tauschen.« Wie war das gemeint? Taten ihm die Schüler leid, weil die Schule aus seiner Sicht für sie unerträglich sein musste? Er war doch selber in der Schule gefangen. Musste dort seine Zeit bis zu seiner Entlassung verbringen.
Er bekam dafür Geld, wahrscheinlich nicht mal wenig. War das damit gemeint? Weil die Schüler ihre Zeit absitzen müssen, ohne einen Cent dafür zu kassieren? Während die Lehrer immerhin dafür einiges Geld mit nach Hause nehmen können.
Doch sie verstand den Satz noch immer nicht. Sie beschloss, Hoofeller bei ihrem nächsten Besuch danach zu fragen.
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