Charles Finch: Die Karte des Todes. Thomas Riedel

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Charles Finch: Die Karte des Todes - Thomas Riedel

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»Ich habe das nur zu gut verstanden, Doktor. Aber betrachten Sie das Problem einmal von meiner Seite aus. Wenn ein Mann durch ein stumpfes Instrument oder eine Handfeuerwaffe getötet wird, fange ich als Detektiv an, nach dem einen oder anderen zu suchen … Wenn er vergiftet wurde, dann suche ich nach Gift und versuche die Personen ausfindig zu machen, die Zugang zur Quelle hatten. Aber in diesem Fall war meine Untersuchung bereits nach fünf Minuten beendet. Mr. Cantrell wurde getötet indem jemand seine lebensrettende Medizin durch Leitungswasser ersetzt hat … Wasser, das vermutlich aus dem acht Fuß entfernt liegenden Badezimmer kam. Jeder hier im Haus hätte die Flasche entleeren und mit Wasser auffüllen können … Ein Vorgang, der absolut keine belastenden Spuren hinterlässt. Und selbst wenn wir Fingerabdrücke auf der Flasche finden, dann haben diese keinerlei Aussagekraft. Jeder im Haus kann die Flasche ohne Wissen des ausgetauschten Inhalts in gutem Glauben berührt haben. Dasselbe gilt für den Wasserhahn.« Er sah Finch mit zusammengekniffenen Lippen an. »Damit wäre ich auch schon am Ende meiner Untersuchung angelangt.«

      »Es bleibt aber bei der Tatsache, dass es kaltblütiger Vorsatz war«, beharrte Finch. »Es war allgemein bekannt, dass Mr. Cantrell einen Herzinfarkt hinter sich hatte, und alles was zwischen ihm und dem Tod stand, war dieses Medizinfläschchen. Die Person, die es in den Abfluss entleerte und mit Wasser auffüllte, wusste genau was passieren würde, wenn er wieder einen Anfall bekam …«

      »Ich weiß, Doktor, ich weiß«, erwiderte Bradley. Seine Stimme klang müde. »Es handelt sich um Mord.«

      »Wie Sie sagen, die Suche nach physischen Beweisen ist vorbei ehe sie begonnen hat«, räumte Finch ein. »Wir haben eine Apothekerflasche mit Wasser, aber die wird uns kaum verraten, wer der Täter ist.«

      »Sie haben ja eine reizvolle Art das Problem auf den Punkt zu bringen«, schmunzelte Bradley kopfschüttelnd.

      »Betrachten Sie das Ganze als reizvolles Problem«, gab Finch zurück, »als ein äußerst reizvolles Problem.«

      »Oh ja, ein äußerst reizvolles Problem, mein werter Doktor«, entgegnete der Inspector. Er holte eine Zigarette aus seiner Jackentasche und schob mit der Schuhspitze verärgert einen Scheit Holz weiter ins Feuer. »Normalerweise betrachten wir einen Fall aus zwei Blickwinkeln. Da sind zum einen die physikalischen Hinweise, die auf jemanden hindeuten und auf der anderen Seite Motive … quod erat demonstrandum … Da es keinerlei Hinweise gibt, haben wir nur den Fakt mit der Flasche. Es wäre vielleicht hilfreich, wenn Sie mir etwas über die Familie erzählen, Doktor, bevor ich mit den Angehörigen rede.«

      Finch starrte für einen Moment ins prasselnde Feuer. »Da war Duncan«, begann er, »und da ist Hazel, seine Frau. Die beiden haben drei erwachsene Kinder, Cedric, Spencer und Dorothy. Dann gibt es da noch Spencers Frau Lucille … und Elizabeth.«

      »Elizabeth?«

      »Miss Elizabeth Evans ist Mrs. Cantrells Schwester. Soweit ich weiß, gehört sie schon seit gut dreißig Jahren zu diesem Haushalt.«

      »Also eine alte Jungfer?«

      »Eine Jungfer sicher, aber auf keinen Fall altmodisch«, korrigierte Finch.

      »Und wie steht's mit den anderen?«

      »Darüber sollten Sie sich besser Ihr eigenes Urteil bilden, Inspector. Ich will Sie auf keinen Fall zu Vorurteilen verleiten.«

      »Sie haben recht, Doktor. Verzeihen Sie mir meine Frage … Aber eine Frage habe ich dann doch noch … Sehen Sie irgendein Motiv?«

      Finch sinnierte eine lange Zeit, ehe er schließlich sagte: »Nichts Offensichtliches. Jedenfalls kann es nicht um Geld gehen. Vor einem Jahr, als Mr. Cantrell wusste, dass er jederzeit sterben könnte, verteilte er sein Geld bereits an die Mitglieder seiner Familie. Sie alle bekamen ihren Anteil an seinem Nachlass zu seinen Lebzeiten. Mit anderen Worten: Es gibt diesbezüglich nichts mehr, was jemand zu seinem Vorteil noch ändern könnte.«

      »Nicht gerade ermutigend, finden Sie nicht auch? Keine physischen Hinweise und kein offensichtliches Motiv. Wie steht es mit Rache oder Eifersucht, Doktor?«

      »Mit solchen Begriffen kann ich nicht viel anfangen«, erwiderte Finch.

      Bradley starrte ihn an.

      »Mr. Bradley, wenn ein britischer Soldat einem indischen Baby die Hand abschneidet und dessen Vater den Soldaten einholt und tötet, ist das Rache. Es wurde ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht begangen, und das daraus resultierende Ergebnis ist Rache für dies Unrecht.«

      »Dem würde ich zustimmen,«

      »Aber betrachten wir das Ganze einmal anders und lassen Sie uns annehmen, das Falsche ist nicht real«, fuhr Finch fort. »Angenommen, es ist eine Fantasie im Kopf eines Menschen, der sich nur vorstellt, verletzt worden zu sein. Angenommen diese Person tötet wegen dieser Fantasie … Sprechen wir dann immer noch von Rache, Mr. Bradley? Immerhin gab es kein wirklich vorhandenes Unrecht … In diesem Fall können wir wohl kaum von Rache sprechen, nicht wahr?«

      »Das ist eine metaphysische Definition, werter Doktor.«

      Finch hatte die Fingerspitzen seiner Hände leicht gegeneinander gedrückt. Seine blassen grauen Augen schauten nachdenklich ins Feuer. »Es geht nicht um Definitionen, Mr. Bradley. Es geht um Fakten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Mann stiehlt seinem Arbeitgeber fünf Pfund und zahlt davon seine Miete. Sie werden das damit erklären, dass der Mann unter Druck stand, in Gefahr seine Unterkunft zu verlieren und gezwungen war zu stehlen, um sich davor zu schützen.«

      »Worauf wollen Sie mit diesem Beispiel hinaus?«

      »Ich möchte darauf hinaus, dass diese Erklärung nicht tief genug geht«, erklärte Finch. »Eine frühe Konditionierung lässt diesen Mann glauben, dass er einen Anspruch auf diese fünf Pfund hat, dass sie ihm zustehen, um seine Miete zu bezahlen, völlig unabhängig davon, wie er an das Geld kommt. Mit dem Diebstahl ist ein Risiko verbunden, aber er geht es ein, weil er glaubt, dass es gerechtfertigt ist. Nun stellt sich die Frage, wie er zu dieser Auffassung kommt. Wurde er als Kind verwöhnt und verzogen? Hat darüber den Glauben gewonnen, dass er alles haben kann, was er will? Oder glaubte er vielleicht, dass ihm als Kind Dinge vorenthalten wurden, die ihm zugestanden hätten? Fakt ist, er nimmt sich die fünf Pfund, wenn er sie braucht und sie ihm keiner gibt.«

      »Ich muss gestehen, dass ich Ihnen nicht so ganz folgen kann, Doktor.« Er zündete sich die Zigarette an, die er schon eine Weile in den Fingern hielt.

      Finch begann sich eine Pfeife zu stopfen. »Nun, Sie würden das Motiv in diesem hypothetischen Fall als das überwältigende Bedürfnis des Mannes beschreiben Miete zahlen zu müssen. Ich würde es seiner Überzeugung zuschreiben, dass er glaubt ein Anrecht auf die fünf Dollar zu haben und er deshalb nicht zögert sie unehrlich an sich zu nehmen, wenn er muss. Die beiden Motivationen sind völlig verschieden. Ihre ist rational und meine die Wahrheit. Wenn wir Ihre akzeptieren, wäre es leicht anzunehmen, dass der Mann nie wieder stiehlt, wenn er aus seinen Schwierigkeiten heraus ist. Nehmen wir meine an, können wir davon ausgehen, dass er immer wieder stehlen wird, denn er glaubt dazu berechtigt zu sein.«

      »Das ist eine interessante Theorie, Doktor, nur frage ich mich, was sie mit dem Tod von Mr. Cantrell zu tun hat?«

      Wieder schwieg Finch einen kurzen Moment. »Ich möchte Ihnen meinen persönlichen Eindruck von Mr. Cantrell nicht nennen«, erwiderte er. »Ich würde damit möglicherweise ein Vorurteil schüren. Ist das der Fall, glaube ich kaum, dass sie noch ein direktes, offensichtliches Motiv finden werden, Mr. Bradley. Mr. Cantrell hat keinem Baby die Hände abgeschnitten. Mit anderen Worten: Er hat keine physische

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