Der Traum. Emile Zola

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Der Traum - Emile Zola Die Rougon-Macquart

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Liebe, es erfüllte das ganze Haus mit lauer Wärme. Und von liebevoller Zuneigung gleichsam umspült, wuchs Angélique in großer Leidenschaftlichkeit und großer Reinheit auf.

      Ein Buch vollendete das Werk. Als sie eines Morgens herumstöberte und auf einem staubbedeckten Regal der Werkstatt wühlte, entdeckte sie zwischen nicht mehr gebrauchten Stickerei Werkzeugen ein sehr altes Exemplar der »Legenda aurea«15 von Jacobus a Varagine. Diese aus dem Jahre 1549 stammende französische Übersetzung war sicherlich einst von irgendeinem Meßgewandmachermeister wegen der Bilder gekauft worden, die voller nützlicher Hinweise über die Heiligen waren. Lange Zeit interessierte sie selbst sich fast nur für diese Bilder, diese kindlich gläubigen alten Holzschnitte, die sie entzückten. Sowie man ihr erlaubte zu spielen, nahm sie den in gelbes Kalbsleder gebundenen Quartband und durchblätterte ihn langsam: zuerst kam der Schmutztitel, in Rot und Schwarz, mit der Anschrift des Buchhändlers, »Zu Paris, in der Rue Neufve NostreDame, im Hause ›Zum Heiligen Johannes dem Täufer‹«, dann der Titel mit den Rundbildern der vier Evangelisten zu beiden Seiten, unten durch die Anbetung der Heiligen Drei Könige, oben durch den Triumph Jesu Christi, der seinen Fuß auf Totengebeine setzt, umrahmt. Und darauf folgte Bild auf Bild, verzierte Buchstaben, große oder mittlere Kupferstiche, wie sie im Text auf die einzelnen Seiten gehörten: Maria Verkündigung, ein riesiger Engel, der eine ganz zerbrechliche Maria mit Strahlen überflutet; der Mord an den unschuldigen Kindlein, der grausame Herodes16 inmitten eines Haufens kleiner Leichname; die Krippe, Jesus zwischen der Muttergottes und dem heiligen Joseph, der eine Kerze hält; der heilige Johannes der Almosner17, der den Armen gibt; der heilige Matthias18, der ein Götzenbild zerschlägt; der heilige Nikolaus19 als Bischof, der zu seiner Rechten Kinder in einem Kübel hat; und alle die heiligen Frauen, Agnes, der man den Hals mit einem Schwert durchbohrt, Agatha, der man die Brustwarzen mit Zangen ausgerissen, Genoveva, der ihre Lämmlein folgen, Juliana20, die gegeißelt, Anastasia21, die verbrannt wurde, Maria Aegyptiaca22, die in der Wüste Buße tut, Maria Magdalena23, die das Gefäß mit wohlriechender Salbe trägt. Andere und immer wieder andere zogen vorüber, Schrecken und Gottesfurcht wurden mit jeder dieser Heiligen größer, es war wie eine jener schrecklichen und zugleich süßen Geschichten, die einem das Herz zusammenpressen und die Augen mit Tränen feuchten.

      Doch mit der Zeit wurde Angélique neugierig und wollte ganz genau erfahren, was diese Kupferstiche darstellten. Die beiden enggedruckten Textspalten, deren Lettern auf dem vergilbten Papier tiefschwarz geblieben waren, erschreckten sie durch den barbarischen Anblick der gotischen Schriftzeichen. Sie gewöhnte sich jedoch daran, entzifferte die Schriftzeichen, begriff die Abkürzungen und die Zusammenziehungen, wußte die Wendungen und die veralteten Worte zu erraten; und schließlich las sie fließend, war entzückt, als dringe sie in ein Geheimnis ein, und jubelte bei jeder neuen Schwierigkeit, die sie überwand. In diesem beschwerlichen Dunkel offenbarte sich eine ganze strahlende Welt. Sie trat ein in himmlischen Glanz. Ihre paar klassischen Bücher, die so nüchtern und so kalt waren, existierten überhaupt nicht mehr. Allein die »Legenda aurea« begeisterte sie, ließ sie nicht mehr los, hielt sie fest, vornübergebeugt, die Stirn in die Hände gestützt, ganz und gar gefangen, so daß sie nicht mehr aus dem täglichen Leben heraus lebte, sondern ohne Zeitbewußtsein das große Erblühen des Traumes aus der Tiefe des Unbekannten heraufsteigen sah.

      Gott ist sanftmütig, und nächst ihm sind es die heiligen Männer und die heiligen Frauen. Sie werden als Auserwählte geboren, Stimmen kündigen sie an, ihre Mütter haben strahlende Träume. Alle sind schön, stark, sieghaft. Heller Schein umgibt sie, ihr Antlitz leuchtet. Dominicus24 hat einen Stern an der Stirn. Sie lesen im Geiste der Menschen, wiederholen mit lauter Stimme, was man denkt. Sie haben die Gabe der Weissagung, und ihre Prophezeiungen treffen stets ein. Ihre Zahl ist unendlich, es gibt Bischöfe und Mönche, Jungfrauen und Huren, Bettler und vornehme Herren von königlichem Geschlecht, nackte Einsiedler, die Wurzeln essen, Greise, die mit Hindinnen in Höhlen leben. Ihrer aller Geschichte ist die gleiche, sie wachsen für Christus heran, glauben an ihn, weigern sich, den falschen Göttern zu opfern, werden gefoltert und sterben voller Herrlichkeit. Die Verfolgungen werden den Herrschern lästig. Andreas25, der gekreuzigt wurde, predigt zwei Tage lang zwanzigtausend Menschen. Bekehrungen in Massen finden statt, vierzigtausend Menschen werden auf einmal getauft. Wenn die Menschenmengen sich angesichts der Wunder nicht bekehren, fliehen sie entsetzt. Man beschuldigt die Heiligen der Zauberei, man gibt ihnen Rätsel auf, die sie lösen, man läßt sie Streitgespräche mit den Gelehrten führen, die ihnen nichts zu erwidern vermögen. Sowie man sie in die Tempel führt, damit sie Opfer darbringen, werden die Götzenbilder von einem Windhauch umgestürzt und zerbrechen. Eine Jungfrau knüpft ihren Gürtel um den Hals der Venus, die daraufhin in Staub zerfällt. Die Erde erzittert, der Tempel der Diana26 stürzt ein, vom Blitz getroffen; und die Völker begehren auf, Bürgerkriege brechen aus. Jetzt verlangen oft die Henker nach der Taufe, die Könige knien zu Füßen der in Lumpen gehüllten Heiligen nieder, die sich der Armut vermählt haben. Savina27 flieht aus dem elterlichen Hause. Paula28 verläßt ihre fünf Kinder und versagt sich das Baden. Kasteiungen, Fasten läutern sie. Weder Weizenbrot noch Öl. Germanus29 streut Asche über seine Nahrung. Bernhard30 kann die Speisen nicht mehr unterscheiden und läßt nichts anderes gelten als den Geschmack des reinen Wassers. Agathon31 behält drei Jahre lang einen Stein im Mund. Augustinus32 ist verzweifelt darüber, gesündigt zu haben, weil er Gefallen daran gefunden, einen Hund laufen zu sehen. Wohlstand, Gesundheit werden verachtet, die Freude beginnt bei den Entbehrungen, die den Leib abtöten. Und so leben sie triumphierend in Gärten, wo die Blumen Sterne sind, wo die Blätter der Bäume singen. Sie vernichten Drachen, sie rühren Stürme auf und beruhigen sie, sie werden in der Ekstase um zwei Ellen vom Erdboden entrückt. Edle Witwen sorgen für ihre Bedürfnisse, solange sie leben, empfangen im Traum die Weisung, sie zu begraben, wenn sie gestorben sind. Außergewöhnliche Dinge widerfahren ihnen, wunderbare Abenteuer, schön wie Romane. Und wenn man nach Hunderten von Jahren ihre Gräber öffnet, entweichen liebliche Düfte.

      Und wider die Heiligen stehen die Teufel, die zahllosen Teufel. »Sie fliegen oft um uns wie Fliegen und erfüllen die Luft ohne Zahl. Die Luft ist ebenso voll von Teufeln und bösen Geistern wie der Sonnenstrahl voll von Atomen. Es sind ihrer wie Staubkörner so viele.« Und der Kampf, der ewige Kampf entbrennt. Stets sind die Heiligen siegreich, und stets müssen sie den Sieg von neuem erringen. Je mehr Teufel verjagt werden, um so mehr kommen wieder. Man zählt sechstausendsechshundertsechsundsechzig im Leibe einer einzigen Frau, die Fortunatus33 von ihnen befreit. Sie toben, sie sprechen und schreien mit der Stimme der Besessenen, deren Flanken sie mit einem Sturm durchrasen. Sie gehen durch die Nase, durch die Ohren, durch den Mund in sie ein, und sie fahren nach Tagen entsetzlicher Kämpfe mit Gebrüll wieder aus ihnen heraus. An jeder Wegbiegung wälzt sich ein Besessener, liefert ein Heiliger, der vorübergeht, eine Schlacht. Basilius34 kämpft Leib an Leib mit dem Teufel, um einen jungen Mann zu retten. Macarius35, der sich zwischen Gräbern schlafen gelegt hat, setzen die Teufel eine ganze Nacht hindurch zu, und er erwehrt sich ihrer. Die Engel selber sind am Bette der Toten gezwungen, die Dämonen krumm und lahm zu schlagen, um der Seelen habhaft zu werden. Ein andermal wird nur gegen den Verstand und den Geist Sturm gelaufen. Man scherzt, man wendet alle Schlauheit auf, der Apostel Petrus und Simon der Magier führen ihren Streit mit Wundern. Der herumlungernde Satan nimmt alle Gestalten an, verkleidet sich als Frau, geht sogar so weit, das Aussehen von Heiligen anzunehmen. Doch sowie er besiegt ist, erscheint er in seiner Häßlichkeit: »Eine schwarze Katze, größer als ein Hund, mit großen glühenden Augen, mit langer Zunge, die breit und bluttriefend bis zum Nabel heraushängt, den gewundenen Schwanz hoch erhoben, seinen Hintern zeigend, aus welchem ein erschrecklicher Gestank hervorgehet.« Dem Satan gilt die einzige Sorge, der große Haß. Man hat Angst vor ihm und verspottet ihn. Man geht nicht einmal ehrlich mit ihm um. Trotz der grausamen Apparatur seiner Siedekessel bleibt er im Grunde genommen der ewig Betrogene. Alle Pakte, die er eingeht, werden ihm durch Gewalt oder List entrissen. Schwache Frauen schlagen ihn zu Boden, Margareta36 zertritt ihm mit ihrem Fuß das Haupt, Juliana schlägt ihn mit der Kette und reißt ihm die Flanken auf. Heitere Ruhe geht von alledem aus, Verachtung des Bösen, weil es ohnmächtig, Gewißheit des Guten, weil die Tugend allem überlegen ist. Man braucht sich nur zu bekreuzigen, und der Teufel vermag nichts mehr, heult auf und verschwindet. Wenn eine Jungfrau das Zeichen des Kreuzes macht, stürzt die ganze Hölle zusammen.

      Alsdann

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