2034. Stefan Koenig
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Auf dem Seziertisch 2022
Was Sie zuvor wissen sollten …
Ich schreibe Ihnen aus dem Jahr 2034. Und ich lebe noch, besser gesagt: gerade noch. Im Jahr 2022 – und damit beginne ich meinen Tatsachenbericht – lag ich als Corona-Impfopfer auf dem Seziertisch der Pathologen, gelähmt und hilflos, mit starren Augen an die Decke schauend, während ich mitbekam, wie man mich aufschneiden wollte. Ich sah mein letztes Stündlein schlagen. Überhaupt – schlagen war »in«. Draußen schlugen sich in Straßenschlachten Geimpfte und Ungeimpfte. Dann erinnere ich mich an einen schrecklichen Wintersturm im selben Jahr – es war der Sturm des Jahrhunderts.
Schließlich folgte ein erholsames und hoffnungsvolles Jahr 2023, und wir riefen die »Freie Republik« aus. Während in der zersplitterten Restrepublik das Covid-Virus und eine ziemlich wirre Politik tolle Blüten trieben, blieb unsere Freie Republik erstaunlich Virus frei. Vor zehn Jahren aber, im Jahr 2024, legte die neue Ampel-Regierung ein Gesetz nach dem anderen vor – was allerdings die grundgesetzliche Substanz unseres Gemeinwesens gehörig untergrub. Rundum spielte zudem die ganze Welt verrückt.
Die Hysterie um Covid-19 bringe mehr Menschen um als Covid selbst, sagten einige. Andere meinten, diese Art Aussagen seien eine Verharmlosung eines gefährlichen Virus, wie ihn unser Planet noch nicht erlebt habe.
Während dieses zweijährigen Pandemie-Palavers verdoppelten die zehn reichsten Familiendynastien der Welt ihr Vermögen auf 1,5 Billionen Dollar, was einem Durchschnittszuwachs von 1,3 Milliarden pro Tag entsprach. Demnach stieg das Vermögen der Milliardäre während der Pandemie stärker als in den gesamten vierzehn Jahren zuvor.
Für Milliardäre glich die Pandemie einem Goldrausch. Regierungen hatten Milliarden in die Wirtschaft gepumpt. Ein Großteil dieser Milliarden blieb bei Menschen hängen, die von steigenden Aktienkursen besonders profitierten. Während ihr Vermögen so schnell wuchs wie nie zuvor und einige von ihnen aus Langeweile und luxuriösester Neugier Ausflüge ins All unternahmen, hatte die weltweite Armut drastisch zugenommen.
Prost!
Zum Wohl!
Nun ja, ich möchte Sie, liebe Leserschaft, nicht mit Trivialitäten langweilen. Wir kennen das alles zur Genüge. »Im Westen nichts Neues« – dieser Anti-Kriegs-Roman von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1928 hatte mich als Gymnasiast besonders beeindruckt. Er handelt vom Ersten Weltkrieg. Ein Nachkriegsroman. Dann kam der Mann aus Österreich mit dem ekligen Schnauzer und verwandelte Remarques Nachkriegsroman in einen Vorkriegsroman.
Ich erinnere Sie ungern, aber es scheint mir angemessen: Noch immer schreibe ich aus dem Jahr 2034. Vor einem Jahr, genau am 30. Januar 2033 – auf den Tag genau hundert Jahre nach SEINER Machtergreifung – rief Alice Weidel in Berlin vom Balkon des neuen Stadtschlosses aus das Fünfte Reich aus. Dabei schwenkte sie die schwarz-weiß-rote Reichsfahne, in der Mitte ein kreisrundes Weiß mit ihrem Konterfei. Gleichzeitig proklamierte Karl Lauterbach in Frankfurt am Main vom Balkon des Römers aus die Fünfte Republik – in Schwarz-Rot-Gold, in der Mitte ein kreisrundes Weiß mit einem fetten Schweizer Roten Kreuz. Das Interessante daran: Beide Staatsformen unterschieden sich kaum. Und dann kam da noch jene bereits erwähnte Gestalt ins Spiel, die jeder kennt – ja, ER war plötzlich wieder da. ER war das Ergebnis jener unsäglichen Corona-Pandemie. Spannend war die Frage, wo er sich feiern lassen würde – bei Alice oder bei Karl?
Diktatoren lieben es, ihre Wiederauferstehung in anderen Gewändern zu zelebrieren. Und die dazu gehörigen feschen Diktaturen verbrämen sich in neuen Staatsformen (möglichst digital) und wollen nicht als Diktaturen erkannt werden. Das alles ist verständlich. (Verkleidete Karnevalisten möchten bei einem vereinsinternen One-Night-Stand auch nicht immer erkannt werden – Alimente, Alimente!). Und wenn ich völlig unbefangen zurückblicke, so begann alles zunächst ziemlich demokratisch.
Wenn ich Ihnen, meine verehrten Leserinnen und Leser, alles der Reihe nach erzählen soll, dann muss ich wohl oder übel bei jenem Übel aus Wuhan anfangen. Vielleicht aber liegt aller Anfang, gewissermaßen die Geburt der Pandemie, in den Köpfen einiger weltbeherrschender Multimilliardäre. Dann würde mich der Erzählstrang erst einmal in die Schweiz führen. Schweizer Käse? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Sie bemerken sicher: Ich befinde mich an einer Weiche und bin bereits jetzt in der misslichen Lage, diese Weiche stellen zu müssen. Die Wege scheinen sich zu trennen – warten wir ab, ob sie wieder zusammenfinden. Verworrene Wege? … Okay, geben Sie sich einen kleinen Ruck und gehen Sie mit mir diese – vielleicht weite, vielleicht aber auch kurzweilige – Strecke mit. Immer in der sprichwörtlichen Hoffnung, dass alle Weg nach Rom führen … oder eben in die Schweiz.
Was Sie unbedingt noch wissen sollten …
Ich habe mir erlaubt, Personen der Zeitgeschichte mit ihren Klarnamen zu benennen. Nur SEINEN Namen habe ich nicht verwenden können, weil er mir bis zum heutigen Tag einfach entfallen ist. SEIN Vorname begann mit »A« und klang so ähnlich wie Arnulf, Alfons oder Arthur. SEIN Nachname begann mit »Hit« oder »Höt« oder »Hät« und könnte Hätler gelautet haben. Aber – ehrlich gesagt – ich weiß es nicht mehr.
In den Fällen, in denen es sich nicht um Personen der Zeitgeschichte handelt, tauschte ich die Namen aus. Wer immer sich wiedererkennen mag, dem sei es unbenommen, sich in die Stiefel einer beliebigen Romanfigur zu stellen. Ich selbst nenne mich so, wie mich mein Autorenname ausweist. Personen, die in diesem Roman nicht vorkommen, obwohl es ihnen vielleicht eine Ehre gewesen wäre, mögen mir verzeihen. Weniger bekannte Personen, die mir gerade deshalb nahe stehen, habe ich verfremdet.
Die hier geschilderte Geschichte gehört zweifellos in die offizielle Geschichtsschreibung und ist somit eindeutig wahr – selbst dann, wenn die Geschichte eines Tages von regierungshörigen Historikern auf Geheiß der Machthaber umgeschrieben werden sollte. Was hier geschrieben steht, ist unverfälschte Zeitgeschichte. Sie ist aus der unmittelbaren Wirklichkeit geschöpft und allein der schöpferischen Suche nach dem Sinn einer Pandemie geschuldet, von denen manche Querulanten vermuten, sie sei erfunden – was ich übrigens sehr bezweifele. Falls Sie die hier geschilderte und heute erlebte Zeitgeschichte so (oder so ähnlich) wie ich empfinden, dann befinden Sie sich auf der gesegneten Seite der Geschichtsschreibung. Natürlich hoffe ich, dass Sie dabei nicht auf dem Seziertisch landeten, wie es mir passierte.
Und jetzt zur Sache!
Es ging um alles. Wenn es um das eigene Leben geht, es sozusagen auf dem Spiel steht, erlebt man eine schauerliche Zitterpartie. Sie können gerne aus Sympathie mitzittern. Der Ehrlichkeit halber aber muss ich Ihnen gestehen: Es ist mir egal.
Jetzt ist es mir egal, völlig egal.
Kurz bevor mich der Pathologe aufschlitzte
Ich liege da; jedenfalls habe ich das unbestimmte Gefühl, dass ich liege. Aber ich weiß es nicht mit hundertprozentiger Gewissheit. Ich habe das Gefühl, dass meine Augen offen sind, doch selbst das könnte ich nicht beschwören, denn es ist so dunkel, dass ich einen Moment lang glaube (wie lange genau, das weiß ich nicht), ich sei vielleicht noch immer bewusstlos. Dann wird mir langsam klar, dass Bewusstlose nicht solche Gefühle haben können. Ein Fetzen Erinnerung dringt zu mir durch und behauptet, das Unglück habe mit der Diskussion um die Corona-Impfung begonnen.
Es stimmt ja auch, noch vor kurzem hatte ich mit meinem Arbeitskollegen Ben (wir arbeiten im gleichen Verlag im gemeinsamen Büro, aber ohne Maske) das sehr spezielle