Untote leben länger. Philip Mirowski

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Untote leben länger - Philip  Mirowski

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Sozialwissenschaften funktionieren in vieler Hinsicht anders als naturwissenschaftliche Disziplinen. Besonders auffällig sind allerdings ihre großen Theoriedebatten, in denen die einen Koryphäen den »Tod von X« verkünden, während die anderen darauf beharren, X habe nie wirklich existiert. Physiker mögen erklären, die ptolemäische Astronomie, die Theorie des Äthers oder die kalte Fusion seien für die moderne Disziplin »tot«, aber sie würden nie so weit gehen zu behaupten, die Theorie oder den Begriff habe es historisch nur in der Fantasie von Leuten gegeben, die man niemals hätte ernst nehmen sollen. In den Sozialwissenschaften geschieht dies hingegen unentwegt: Sie praktizieren häufig den schmerzhaften Spagat, einem bestimmten verbreiteten Konzept schlechthin die Existenz abzustreiten, während sie zugleich seinem ektoplasmischen Leichnam die letzte Ölung verpassen. Kein Wunder, dass wir in Zombie-Alpträume geraten sind, wie im letzten Kapitel gesehen. Das mag symptomatisch für eine verbreitete Schwäche der ontologischen Auffassungsgabe, mangelnde Pietät gegenüber den Verstorbenen oder Schlimmeres sein, doch in jedem Fall ist es ein Defekt, der Debatten tückisch macht.

      Im Lauf der aktuellen Krise betraf dieser Spagat das theoretische Gebilde »Neoliberalismus«: Während ein Chor von Think-Tanks den Begriff für gegenstandslos erklärte, stimmte eine kleinere Gruppe den Grabgesang an. Kommentatoren aller Art, darunter bezeichnenderweise nicht wenige Neoliberale, behaupteten beharrlich, jenseits der bloßen Bezeichnung habe nie wirklich eine Theorie existiert, oder taten den Begriff polemisch gestimmt als Schimpfwort umnachteter Linker ab.1 Verwirrenderweise kursierten aber zugleich voreilige Gerüchte über ein Ableben des Neoliberalismus, dessen Schicksal die Wirtschaftskrise endlich besiegelt habe. Für manche war dieser Eindruck so eindringlich, dass sie praktisch hören konnten, wie die Würmer am Sarg der noch warmen Ideologie knabberten. Kapitel 1 sollte zeigen, wie die Erfahrungen der Jahre danach nahezu alle Beteiligten irritiert und verunsichert haben und dass eine Voraussetzung des politischen Fortschritts darin besteht, ein genaueres Verständnis dieses Debakels zu gewinnen. Das gesamte Thema Neoliberalismus muss möglicherweise selbst von denjenigen überdacht werden, die gute Kenntnisse der politischen Theorie für sich beanspruchen, und sei es nur um besser zu begreifen, warum die Neoliberalen nach der Krise seltsamerweise stärker sind als zu der Zeit, in der sie ihr den Weg bahnten. Die plakative Rede von einer bösartigen »Schock-Strategie« (Naomi Klein) ist das eine. Etwas anderes ist es, im Detail nachzuvollziehen, wie der Neoliberalismus dem Tag der Abrechnung entging: durch etwas, das man »Schock-Block-Strategie« nennen könnte. Der Neoliberalismus ist quicklebendig; die Leidtragenden sollten die Gründe dafür kennen.

      Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Existenz, der Wirkungsmacht und Widerlegbarkeit des Neoliberalismus. Er dominiert weiterhin die Politik und wichtiger noch: Die meisten Menschen selbst betrachten ihre angespannten Lebensverhältnisse weiterhin durch eine Brille, die vom Neoliberalismus geprägt ist. Ist dies Verwirrung, Missgunst oder Naivität geschuldet? Oder liegt der Grund in einem Zusammenspiel je nach geografischer Lage unterschiedlicher, an sich unverbundener historischer Tendenzen wie der Verunsicherung durch die Arbeitsmigration, den schwachen Regierungsstrukturen der Europäischen Union oder der starken Abhängigkeit des Staates vom Finanzsektor? Auch wenn wir die vielen lokalen Besonderheiten berücksichtigen, sie erklären doch alle nicht das wirklich Entscheidende: Die Krise hat keine grundlegende Revision des bisherigen politischen Katechismus bewirkt. Ein bedeutender Grund für diese Verschonung des Neoliberalismus, des für das Debakel verantwortlichen Gedankengebäudes, dürfte lauten, dass er als Weltanschauung mittlerweile so tief im Alltagsleben verwurzelt ist, dass er als nahezu »ideologiefreie Ideologie« durchgehen kann.

      Viele Menschen meinen sogar noch immer, er existiere gar nicht wirklich. Dass die heutige politische Ökonomie jenseits vager Annahmen über Angebot und Nachfrage eine Struktur aufweisen könnte, ist für solche Skeptiker unvorstellbar. Selbst von der Mont Pèlerin Society, eine Zeit lang der entscheidende Ort für seine Herausbildung, hat offenbar kaum jemand gehört. Teilweise ist dies den Neoliberalen selbst anzulasten: Wie ich dokumentieren werde, bezeichneten sich die Mitglieder der MPS zwar in den frühen Fünfzigerjahren als »neoliberal«, nur um davon bereits in den Sechzigerjahren wieder Abstand zu nehmen und stattdessen eine ungebrochene Kontinuitätslinie zu Adam Smith zu behaupten. Genauso viel Schuld sollte man allerdings ihren linken Gegnern geben, die »Neoliberalismus« in der Auseinandersetzung mit wichtigen, zumeist als »Globalisierung«, »Finanzmarktkapitalismus« und »Gouvernementalität« verhandelten Phänomenen häufig als pejorativen Allzweckbegriff zücken. Grobe Bezeichnungen für aktuelle politische Entwicklungen sollte man nicht mit der sorgfältigen Analyse politischer Doktrinen verwechseln, die zum Zwecke langfristiger Organisierung geschaffen wurden, sosehr sich beides auch berühren mag; abstrakte Kampfbegriffe haben der durchschnittlichen Person leider kaum Klarheit über das Wesen des Neoliberalismus verschafft. Obendrein wird manchmal noch behauptet, es gehe bei alldem ausschließlich um »Wirtschaftstheorie«, was bei den meisten Menschen garantiert den Wunsch auslöst, das Thema möglichst schnell hinter sich zu bringen.

      Aufklärung über das neoliberale Programm erfordert in erster Linie eine historische Untersuchung seiner Herkunft und Entwicklung – eine Forschungsarbeit, die bereits weitgehend geleistet wurde.2 Das vorliegende Kapitel rekapituliert diese Geschichte jedoch nicht einfach, sondern nähert sich der Rolle des Neoliberalismus in der Krise stärker analytisch. Wir werden zunächst dokumentieren, wie man durch die Krise eine Veränderung der geistigen Landschaft erwartete, danach gängige, seine Zählebigkeit fördernde Missverständnisse über die Kernlehren des Neoliberalismus zusammenfassen, uns der dringend gebotenen Darstellung seiner »doppelten Wahrheiten« widmen und mit dem Wissensverständnis der Neoliberalen schließlich einen der Hauptgründe dafür erörtern, dass sie unbeschadet durch die Krise gekommen sind. Mit diesem politischen Hintergrundwissen gerüstet, können wir uns im Rest des Buches dann direkt mit den Debatten im Gefolge der Krise befassen.

      Schau’ nicht zurück

      Es bereitet gewiss kein Vergnügen, auf die völlige Fehleinschätzung der geistigen Folgen der Krise hinzuweisen. Ich erinnere mich, wie ich 2008 selbst meinte, vielleicht werde nun endlich manches von dem Unfug verschwinden, der die orthodoxe Wirtschaftslehre zeit meines Lebens verschandelt hatte. Wer von uns dachte damals nicht, der Zusammenbruch von Bear Stearns, Lehman Brothers, AIG, Northern Rock, Lloyds Bank, Anglo Irish Bank, Kaupthing, Landsbanki, Glitnir und einiger kleinerer Institute werde zumindest die triefende Siegesgewissheit derer durchkreuzen, die sich eines umfassenden Verständnisses der globalisierten Ökonomie gerühmt hatten? Die Erwartung eines solchen weltweiten Kollapses des Finanzsektors und sodann der übrigen Wirtschaft war bis dato ein Markenzeichen von Verschwörungstheoretikern, Apokalyptikern und unverbesserlichen historischen Materialisten gewesen. Wer hätte bestreiten können, dass etwas furchtbar schiefgelaufen war? Der nächste Schritt des logischen Schlusses, der sich indes als falsch erwies, lautete, nun werde jedermann erkennen, dass die der Krise vorausgehende Blase eine direkte Folge bestimmter Doktrinen war, deren Widerruf folglich bevorstehe. Fasste man diese Doktrinen unter dem Sammelbegriff »Neoliberalismus« zusammen und gab eine Prise Falsifikationismus hinzu, dann gelangte man zu der verbreiteten Annahme, wir würden Zeuge des Niedergangs einer gesamten Denkweise:

      »Die erste intellektuelle Folge der Krise bestand darin, den Neoliberalismus – oder den Glauben, Märkte allein böten eine hinreichende Gewähr für das menschliche Wohl – als Grundideologie der Epoche zu unterminieren.«3

      »Das Projekt des freien Marktes steckt in der Klemme. Noch nie ist die Frage nach der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rolle – Schuld könnte ein treffenderes Wort sein – des Neoliberalismus mit einer solchen Dringlichkeit, derart global und öffentlich debattiert worden.«4

      »Der Neoliberalismus hat sich selbst zerstört. Der dreißig Jahre andauernde globale Vormarsch der Ideologie des freien Marktes ist an sein Ende gekommen.«5

      »Der Fall der Wall Street ist für den Neoliberalismus, was der Fall der Berliner Mauer für den Kommunismus war.«6

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