Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea - Hans-Peter Schwintowski страница 238
Um ihren umfassenden Aufgaben zu entsprechen, müssen die Vorstandsmitglieder die für die Wahrnehmung ihrer Leitungsaufgabe erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Sie können sich nicht darauf berufen, für die Gesellschaft erforderliche Entscheidungen mangels besonderer Kenntnisse nicht treffen zu können.[58]
291
Das Hauptproblem der Bestimmung einer Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands liegt in der Abgrenzung der Verletzung der Sorgfaltspflicht gegenüber bloßen Irrtümern und Fehleinschätzungen. Wegen des weiten unternehmerischen Ermessensspielraums können Irrtümer und Fehleinschätzungen gegebenenfalls zur Abberufung des Vorstands und unter Umständen auch zur fristlosen Kündigung seines Anstellungsvertrages führen. Sie müssen aber noch nicht zu seiner zivilrechtlichen Haftung führen. Eine Erfolgshaftung des Vorstands gibt es nicht.[59]
292
Der BGH hatte schon vor der Neueinfügung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG[60] die Grenze des unternehmerischen Ermessens in Anlehnung an die im US-amerikanischen Recht geltende Business Judgement Rule in zwei grundlegenden Entscheidungen[61] konkretisiert und festgestellt, dass das unternehmerische Ermessen des Vorstands sehr weit geht und eine Haftung erst bei schlechthin unvertretbarem Vorstandshandeln eintreten darf. Wenn der Vorstand aufgrund sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen unter Ausnutzung aller Erkenntnisquellen eine am Unternehmenswohl orientierte Entscheidung trifft und diese sich dann im Nachhinein als fehlerhaft erweist, tritt keine Haftung des Vorstands ein. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG erweist sich insofern als eine Kodifikation der Rechtsprechung.[62]
293
Obwohl es für die Beurteilung des unternehmerischen Beurteilungsspielraums immer auf die Frage der konkreten Entscheidungssituation ankommt, lässt sich die allgemeine Regel aufstellen, dass es zur unternehmerischen Leitung gehört, Risiken einzugehen, dass jedoch, je höher die Risiken sind, die Vorbereitung und Überprüfung der Entscheidung durch den Vorstand umso gründlicher ausfallen muss.[63]
294
Aufgrund der Gesamtverantwortung des Vorstands haftet jedes Vorstandsmitglied nicht nur für seine eigenen unternehmerischen Entscheidungen in seinem Ressort, sondern auch für die Entscheidungen seiner Vorstandskollegen. Eine Geschäftsverteilung unter den Vorstandsmitgliedern hebt die Pflichten der unzuständigen Vorstandsmitglieder nicht auf. Deren Pflicht wandelt sich in eine Pflicht zur Überwachung der jeweils anderen Ressorts und eine Pflicht zum Einschreiten im Fall der Feststellung von Pflichtverletzungen.[64] Bei der Prüfung und Überwachung darf sich das unzuständige Vorstandsmitglied nicht darauf beschränken, gegen eine Beschlussvorlage, die aus dem Ressort eines anderen Vorstandsmitglieds stammt, zu stimmen. Wenn das Vorstandsmitglied erkennt, dass in der Maßnahme eine potenzielle Gefährdung der Gesellschaft enthalten ist, besteht die Verpflichtung, den Aufsichtsrat einzuschalten.[65]
295
Ungeklärt ist, inwieweit die Empfehlungen des DCGK den Sorgfaltsmaßstab des § 93 AktG konkretisieren. Allgemein wird davon ausgegangen, dass eine Haftungsverschärfung durch die Beachtung oder Nichtbeachtung der Empfehlungen des DCGK nicht eintreten soll. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Abs. 6 der Präambel des DCGK den Gesellschaften ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, von den Empfehlungen des Kodex abzuweichen, um branchen- oder unternehmensspezifische Bedürfnisse wahrnehmen zu können. Aus der Gesetzesbegründung[66] ergibt sich, dass der DCGK unverbindliche Verhaltensempfehlungen geben will.[67] Denkbar ist gegebenenfalls, dass der DCGK zur Auslegung aktienrechtlicher Vorschriften herangezogen werden kann.[68] Auch die Abgabe der Entsprechungserklärung gem. § 161 AktG kann nicht als rechtlich bindende Konkretisierung der Sorgfaltspflichten des Vorstands angesehen werden, denn die Entsprechungserklärung wird von den Organen abgegeben, um die von der Gesellschaft geübte Corporate Governance transparent zu machen. Eine rechtliche Bindungswirkung für oder zwischen den Organen soll dadurch nicht erreicht werden.[69]
296
Bindungswirkungen entfalten die Empfehlungen des DCGK jedoch dann, wenn sie zum Inhalt der Geschäftsordnung und des Anstellungsvertrages des Vorstands gemacht wurden. Eine Sorgfaltspflichtverletzung des Vorstands ist auch anzunehmen, wenn die Entsprechungserklärung gem. § 161 AktG nicht abgegeben wird, von den Empfehlungen ohne Bekanntmachung abgewichen wird oder eine von vornherein unzutreffende Entsprechungserklärung abgegeben wird.[70]
297
Eine Ersatzpflicht des Vorstands setzt voraus, dass das Vorstandsmitglied schuldhaft, d.h. vorsätzlich oder fahrlässig, die gestellten Sorgfaltsanforderungen verletzt hat. Der Verschuldensmaßstab des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG ist wie derjenige des § 276 Abs. 1 S. 2 BGB ein typisierter. D. h., es kommt darauf an, ob das Vorstandsmitglied die subjektiv an ein ordentliches und gewissenhaftes Geschäftsleitungsmitglied zu stellenden Sorgfaltsmaßstäbe beachtet hat. Aufgrund dieser typisierten Betrachtung ist bei der Feststellung eines objektiven Sorgfaltspflichtverstoßes auch die subjektive Pflichtwidrigkeit regelmäßig anzunehmen. Dies ist letztendlich darauf zurückzuführen, dass Vorstandsmitglieder die Fähigkeiten und Kenntnisse haben müssen, die für die ihnen anvertraute Leistungsaufgabe objektiv erforderlich sind. Bei mangelnden eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten können sich die Vorstandsmitglieder daher nicht exkulpieren.[71] Dem Verschulden kommt aus diesem Grund in der Praxis nur geringe Bedeutung zu, da in der Regel die objektive und die subjektive Pflichtwidrigkeit deckungsgleich sind. Allenfalls in Fällen, in denen ein sofortiges Handeln vom Vorstand im Gesellschaftsinteresse verlangt wird und er keinen sachverständigen Rat einholen kann, ist ein Auseinanderfallen von objektivem und subjektivem Pflichtverstoß denkbar.[72]
298
Sowohl die objektive Pflichtwidrigkeit als auch die subjektive Pflichtwidrigkeit, d.h. das Verschulden des Vorstands, wären im Streitfall nach allgemeinen Beweislastregeln von der Gesellschaft als Anspruchstellerin zu beweisen. Diese Beweisführung wäre der Gesellschaft im Streitfall oft nicht möglich, weil nur der Vorstand über die entsprechenden Unterlagen und Dokumentationen seines unternehmerischen Handelns verfügt. Deshalb ordnet § 93 Abs. 2 S. 2 AktG eine Beweislastumkehr an und fordert vom Vorstand den Beweis, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat.[73]
299
Die Verteilung der Beweislast bei Geltendmachung eines Anspruchs gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG stellt sich demnach wie folgt dar:
300
Die Gesellschaft hat die Handlung oder Unterlassung des beklagten Vorstandsmitglieds, den Eintritt eines Schadens und die adäquate Kausalität zwischen Handlung und Schaden zu beweisen. Gelingt ihr diese Darlegung und auch der erforderliche Beweis, muss der Vorstand darlegen und beweisen, dass er nicht pflichtwidrig und nicht schuldhaft gehandelt hat oder der Schaden auch bei einem pflichtgemäßen Verhalten eingetreten wäre (rechtmäßiges Alternativverhalten).[74] Die geschilderte Beweislastregelung gilt auch in den Fällen des § 93 Abs. 3 AktG: Hier kommt ergänzend zu der Beweiserleichterung zugunsten der Gesellschaft hinzu, dass bei Vorliegen einer der dort genannten Vermögensminderungen das Vorliegen eines Schadens der Gesellschaft vermutet wird.[75]
301
Die Haftung gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG ist für jedes Vorstandsmitglied individuell festzustellen. Verletzen mehrere Vorstandsmitglieder ihre Sorgfaltspflichten, so haften sie der Gesellschaft für den daraus entstandenen Schaden als Gesamtschuldner. Die gesamtschuldnerische Haftung tritt dann ein, wenn die Vorstandsmitglieder eine Schädigung durch gemeinsames Handeln oder Unterlassen herbeigeführt haben, weil die Maßnahme in die Gesamtzuständigkeit