Bobbie oder die Liebe eines Knaben. Hugo Bettauer
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Bob konnte dann stundenlang nicht einschlafen.
Unaufhörlich kreisten seine Gedanken um die Ereignisse des heutigen Tages, der so schön begonnen und so grauenhaft geendet hatte. Er bemühte sich, ruhig und folgerichtig alles zu überdenken, und kam zu dieser Erwägung: Ein Unfall konnte Gertie nicht widerfahren sein, weil das Menschen gesehen und gemeldet hätten. Das Verschwinden Gerties mußte sich ja innerhalb einer Strecke von kaum mehr als einer viertel Meile abgespielt haben. Also war Gertie einfach geraubt worden. Aber wer raubt kleine Mädchen?
Hier stießen Bobs Gedanken an eine unüberbrückbare Mauer. Sein unschuldvolles Gemüt ahnte nichts von den verbrecherischen Instinkten verderbter Menschen, von den bestialischen Trieben kranker Wüstlinge. Aber er hatte Geschichten von Zigeunern gelesen, die Kinder entführen, um sie für ihre Wandertruppen abzurichten. Bobs Klugheit sträubte sich gegen solche Vermutungen. Gertie war schließlich kein Baby mehr, das sich willenlos wegschleppen ließ. Und dann hätte man ja solche Zigeuner in dieser stillen, ruhigen Gegend auch bemerken müssen. Dann erinnerte er sich daran, daß vor kurzer Zeit die Zeitungen berichtet hatten, wie die Tochter eines amerikanischen Bankiers von Männern geraubt worden war, die für ihre Freigabe ein riesiges Lösegeld erpreßten. Bob mußte lachen. Solche Leute würden vorher wohl genau die Vermögensverhältnisse der Eltern erforschen und nicht das Kind einer armen Offizierswitwe rauben, die ein Lösegeld gar nicht zahlen konnte. Nein, wären es Erpresser, Mitglieder einer Verbrecherbande gewesen, dann hätten sie wohl ihn, den einzigen Sohn des reichen Fabriksbesitzers, geraubt, aber nicht die arme, kleine Gertie.
Der Morgen dämmerte heran und die ersten Sonnenstrahlen fielen schräge auf die dunklen Locken Bobs, als er endlich eingeschlafen war. Diesmal verfolgte ihn aber im Traum das holde Bild Gerties, neben der ein furchtbar häßlicher Kerl mit Pockennarben im grinsenden Gesicht auftauchte.
VIII. Kapitel. Der Fall Gertie Sehring
Sämtliche Morgenblätter beschäftigten sich schon mit dem Fall Gertie Sehring. Die meisten begnügten sich allerdings mit der polizeilichen Darstellung, die kurz und bündig das Verschwinden des kleines Mädchens sowie eine genaue Personsbeschreibung enthielt und jedem, der zur Aufklärung der Sache beitragen würde, eine hohe Belohnung zusicherte. Nur die »Morgenpost« machte das Verschwinden Gertie Sehrings zu einer Sensationsangelegenheit. In einem sehr lebhaft geschriebenen Artikel wies sie auf die vorhergegangenen zwei fast gleichen Fälle hin und schrieb:
»Es ist also ganz klar, daß in unserer Mitte ein menschliches Ungeheuer sein Unwesen treibt, das systematisch darauf ausgeht, Kinder zu rauben. Da es sich aber immer wieder um auffällig hübsche Kinder weiblichen Geschlechtes handelt, so dürfte der Zweck solchen Menschenraubes klar sein. Um so furchtbarer muß jeder Mutter in dieser Stadt der Gedanke sein, daß auch ihr Kind ein ähnliches Schicksal finden könnte. Der Fall der kleinen Sehring ist geeignet, die größte Beunruhigung unter den Müttern wie unter den Kindern hervorzurufen. Nur unsere verehrliche Polizei scheint sich nicht zu beunruhigen. Sie hat die Räuber der seit Monaten verschwundenen Mädchen nicht entdeckt, sie wird auch das Scheusal nicht finden, das Gertie Sehring verschleppt hat. Wir lenken hiermit die Aufmerksamkeit des Ministers des Innern auf die ersichtliche Unfähigkeit unserer Sicherheitspolizei, Verbrechen zu verhüten und Verbrecher zu entdecken.«
Ein zweiter Artikel behandelte den Fall Sehring vom Standpunkte des kriminalistischen Fachmannes. Alle möglichen Fälle gleicher Art, die sich hier und anderwärts zugetragen hatten, wurden darin aufgezählt und alle möglichen Motive zum Menschenraub erörtert. Der Verfasser kam zum gleichen Schlusse wie Bob.
»Hier kann es sich nicht um die Tat einer Erpresserbande handeln, da aus Frau Sehring, einer in dürftigen Verhältnissen lebenden Witwe, nichts herauszuholen ist. Nein, aller kriminalistischen Erfahrung nach ist das unglückliche Kind das Opfer eines Menschen geworden, dem der Besitz des Mädchens gewissermaßen Selbstzweck und nicht Mittel zum Zweck ist. Der Spielgefährte Gertie Sehrings, der dreizehnjährige Gymnasiast Bob Holgerman, Sohn des bekannten Fabriksbesitzers Holgerman, erzählt, wie die Polizei mitteilt, von einem geschlossenen Automobil, das er gesehen und gehört hat und das er mit gesundem Instinkt in Zusammenhang mit dem Verschwinden seiner kleinen Freundin bringt. Immerhin ein Fingerzeig für die Polizei. Allerdings muß noch eine Möglichkeit in Betracht gezogen werden, Immer wieder kommt es vor, daß Menschen in einen plötzlichen Traumzustand geraten, der sich in einen Wandertrieb umsetzt und sie veranlaßt, ohne Ziel und Zweck ihr Heim zu verlassen und ins Unbekannte zu pilgern. Gewöhnlich ist ein solcher Zustand, der jedem Pathologen wohlbekannt ist, mit dem zeitweisen oder dauernden Verlust des Gedächtnisses verbunden, so daß die Erkrankten ihren Namen, ihre Adresse, ihre ganze Vergangenheit nicht mehr kennen. Daß solche Unglückliche wochen-, monate-, ja jahrelang nicht zu finden sind, ist begreiflich. Sollte es sich so auch mit Gertie Sehring verhalten? Diese Möglichkeit ist auch ins Auge zu fassen, und es wird Sache der Polizei sein, zu ergründen, ob das Mädchen an Nervenstörungen schon gelitten hat oder sich in ihrer Familie Kranke dieser Art befunden haben. Gegen die Annahme, daß sich Gertie Sehring in einem gewissermaßen somnambulen Zustande entfernt hat, spricht indessen die Tatsache, daß solche Fälle bisher niemals unter Kindern, sondern ausschließlich unter Erwachsenen beobachtet wurden. Und auch das Verschwinden der neunjährigen Ruth Clemens und der elfjährigen Marie Peters beweisen fast zur Gewißheit, daß es sich hier nur um ein grauenhaftes Verbrechen handelt, um die Tat einer Bestie in Menschengestalt.«
Bob Holgerman las zu Hause beim Frühstück die »Morgenpost«, und eine ihm selbst unerklärliche Ruhe kam nach den Erschütterungen der vergangenen Nacht über ihn. Es gibt Physiologen, die behaupten, daß der Mensch nicht langsam und allmählich wachse und reife, sondern ruckartig, abschnittsweise. Wenn diese Theorie zutrifft, so machte an diesem Morgen nach dem Lesen der »Morgenpost« das innerliche Wachstum Bobs einen gewaltigen Sprung nach vorwärts. Er sah einen Weg und ein Ziel vor sich und wußte nun ganz genau, daß Gertie nur von einem gerettet werden konnte, der sein ganzes Dasein dieser Aufgabe widmen würde, und nur er dieser eine sein könnte. Und als nun ein Abgesandter des Detektivinspektors Crispin, der Kriminalbeamte Lorensen, sich anmeldete, um neue Verhöre und Nachforschungen zu veranstalten, da sah der im Dienst ergraute Mann sich einem kleinen Knaben gegenüber, der mit verblüffender Sicherheit alle Fragen beantwortete und seinerseits mit der logischen Verstandesschärfe eines Mannes Fragen stellte. Und der Beamte lachte weder, noch wunderte er sich, als ihm Bob zum Schlusse sagte:
»Herr Lorensen, ich bin überzeugt davon, daß die Polizei alles tun wird, was ihr möglich ist. Aber auch ich werde das tun, was mir möglich erscheint.«
Bob begab sich, als der Detektiv gegangen war, zu Frau Sehring hinüber, bei der er seine Mutter traf. Frau Sehring war krank, sehr krank, sie hatte die ganze Nacht an Herzkrämpfen gelitten, und Frau Holgerman ließ kurz entschlossen eine Pflegerin kommen, die bei der verzweifelten Mutter zu wachen und alle häuslichen Arbeiten zu besorgen hatte.
Der Knabe war von dem Anblick der bleichen Frau, deren blutleere Lippen nervös zuckten, tief ergriffen. Er weinte aber nicht mit ihr, wie er es noch gestern getan hatte, sondern seine eiserne Ruhe verließ ihn nicht; er hielt sich auch nicht lange an dem Krankenbette auf, ging vielmehr bald wieder.
Im Park herrschte unter den Kindern, die ja alle Gertie wenigstens von Angesicht kannten, die größte Aufregung, ebenso unter den begleitenden Müttern oder Erzieherinnen und Bob wurde umringt und weidlich ausgefragt. Aber er entzog sich rasch allen Kundgebungen und suchte den Invaliden auf, der ihm voll ehrlichen Mitgefühles die schwielige Hand entgegenstreckte und ihn mit »junger Herr« ansprach. Bob ging neben dem Alten schweigend einher, bis sie dem Kinderschwarm entronnen waren, dann sagte er ernst:
»Herr Wächter, ich werde nun selbst nach Gertie suchen. Und ich bitte Sie,