Engelhart Ratgeber. Jakob Wassermann
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Читать онлайн книгу Engelhart Ratgeber - Jakob Wassermann страница 11
Die Kinder sahen nur noch die richterliche Gewalt in ihm, er schien nicht mehr Teilnahme für sie zu hegen als der Drahtziehende im Puppentheater an den gehorchenmüssenden Marionetten. Bei Tisch durfte nicht gesprochen werden, anständige Kinder sprechen nicht bei Tisch, hieß es. Ein Verbot wurde ausgesprochen, die Kinder wollten den Grund wissen, dies setzte oft in Verlegenheit, und jede Erörterung wurde mit dem Satz abgeschnitten: Genug, ein Kind fragt nicht warum. Der Vater verlor das Licht in Engelharts Augen, es kam vor, daß er beim Schall seiner Schritte zitterte. Er lernte in den Blicken und zwischen den Lippen der Menschen lesen, erfüllt von Mißtrauen und allgemeiner Angst. Gerade in dieser Zeit fand er einen Kameraden. Sein Name war Philipp Raimund, es war ein aufgeweckter Knabe von graziösem Wesen; er hatte etwas Beschwingtes, Beherztes, das in seinem Gang und in seiner Art, den Kopf zu tragen, zur Geltung kam, seine Stimmung war durchsichtig wie Glas, alles an ihm war hell, seine Äußerungen hatten eine famose angeborene Kräftigkeit. An einem Mittwochnachmittag marschierten sie zusammen in den Burgfarnbacher Wald, bis sie an eine tiefeinsame Stelle kamen. Dort rasteten sie. Raimund teilte sein Butterbrot mit Engelhart, sie sprachen über die Schule, dann über ihre Eltern, und Raimund fragte beiläufig, ob es Engelhart nicht gut zu Hause habe.
»Wir haben jetzt eine Stiefmutter,« entgegnete dieser in einem Ton, als ob es sich um eine kleine vorübergehende Unannehmlichkeit handle.
»Autsch!« rief Raimund teilnehmend und patschte sich auf die Schenkel. Von da an wurde sein Benehmen noch zarter und freundlicher; er berührte diesen Umstand niemals wieder. Immer mehr nahm die Philosophie von ihren Unterhaltungen Besitz, und sie stritten mit Eifer über die Existenz Gottes. Engelhart leugnete Gott; das bekümmerte Raimund, und er hatte viele Gründe dagegen. »Können denn die Blumen und die Bäume von selbst entstehen?« fragte er eindringlich, »und die Sonne, sie ist doch da, folglich muß sie geschaffen worden sein.«
»Sie ist ewig,« antwortete Engelhart.
»Ewig? Was heißt das?« warf Raimund nachdenklich entgegen. »Ewig ist nichts, das ist doch nur ein Wort.«
Dieser Einwand machte Engelhart stutzig, er hätte nichts zu sagen gewußt, wenn Raimund nicht hinzugefügt hätte: »Und der Mensch, so schön und lebendig, glaubst du, durch Zauberei ist er gekommen?«
»Die Menschen entstehen aus sich selbst,« sagte Engelhart.
»Wie, aus sich selbst?« fragte der andre erstaunt.
»Ich weiß es,« behauptete Engelhart finster, dennoch sank in diesem Augenblick seine Wissenschaft in Nichts zusammen, und aus Groll darüber ward er störrisch. »Wie ist denn Gott?« warf er dem Freunde grimmig ein. »Was ist denn Gott? wie denkst du ihn? wie sieht er aus?«
Raimund lächelte sonderbar liebenswürdig und sagte ruhig: »Er ist ein Wesen.« Dazu machte er eine getragene Handbewegung und sein Gesicht hatte den Ausdruck der Verehrung.
Dies geistige Einander- und Sichselbstsuchen im kindischen Wortgefecht, dies warme Emporsehnen und Hinausfühlen war genug des Glücks, was konnte ein Ja oder Nein daran vermehren oder davon rauben? Ihre Worte glichen leerem Fliegengesurr in sommerlicher Luft, was Engelhart dachte, teilte er dem Freunde mit, aber was sie empfanden, verbargen sie einander sorgsam, so wurde ihr Beisammensein reich an unterirdischen Quellen. Raimund zuerst fand Engelharts Herz voll von Freundschaft, er bereitete es zu für die Freundschaft, er machte ihm das Gespräch mit einem vertrauten Genossen unentbehrlich.
Eines Tages durfte Gerda an einem Spaziergang der Freunde teilnehmen, und das kam so: Engelhart hatte Raimund abgeholt, und sie gingen an dem Haus vorbei, wo Ratgebers wohnten. Da sahen sie Gerda auf der Steintreppe des Spenglerladens sitzen und weinen. Die Knaben fragten sie aus, und sie erzählte, sie habe ein Glas zerbrochen und sei geschlagen worden. Der mitleidige Raimund lud sie ein, mitzukommen, und sie besann sich nicht lang. Sie wanderten in den Vestnerwald, Gerdas blasses Gesicht färbte sich in der belebenden Luft, und ihre Augen, deren Ausdruck stets zwischen Pfiffigkeit und Träumerei wechselte, blickten freier. Sie gab nur Angst vor neuer Züchtigung zu erkennen, weil sie so weit vom Hause war, aber Raimund lachte und meinte, das wolle er schon richten. In der Tat hatte Frau Ratgeber eine Schwäche für den Knaben, weil er angesehener Leute Kind war und ihr sein Verkehr mit Engelhart schmeichelhaft vorkam; er war der Sohn eines Landgerichtsrats.
Die drei zogen tiefer in den Wald und beachteten kaum, daß die Dämmerung einbrach. Bisweilen blieb Raimund stehen und hielt mit scharfen Augen Umschau. Ein Uhu schrie in der Ferne, es wurde schnell dunkel, gerade daß sie noch den Waldrand und die Landstraße erreichten, ohne in die Irre gegangen zu sein. Gerda war plötzlich todmüde, sie war nicht gewohnt zu marschieren, sie sank nieder in das feuchte Gras und schüttelte auf Raimunds scherzhaften Vorschlag, daß er und Engelhart sie tragen könnten, matt lächelnd den Kopf. Gleich darauf war sie eingeschlafen.
»Lassen wir sie ein wenig schlafen,« murmelte Engelhart, »jetzt ist alles eins, Prügel gibt’s sowieso.« Vor ihnen im Osten stieg der Vollmond auf; zur Mulde vertieft, lagen die Äcker, und auf dem Kamm des langgestreckten Hügels standen drei Pappelbäume, scharf in den Himmel gezeichnet. Raimund machte sich lustig über Engelharts Schweigsamkeit, auch später, als sie schon auf dem Heimweg waren, das verschlafene Mädchen in ihrer Mitte führend. Aber er konnte nicht anders, es war ihm bang ums Herz, und er vermochte nicht Rechenschaft zu geben warum, er fand kein Wort, keinen Gedanken dafür. Es war, als verursache die Schönheit der Nacht ihm Schmerz, er spürte eine Kraft in sich, die er nicht anzuwenden wußte, es beunruhigte ihn eine Fülle, welche die Brust zu sprengen drohte.
Raimund begleitete die Geschwister bis nach Hause und machte einen so geschickten Fürsprecher, daß man Gnade walten ließ. Das war der letzte schöne Tag mit Raimund, bald darauf verließen seine Eltern die Stadt, sein Vater war nach Bamberg versetzt worden.
Sechstes Kapitel
Im darauffolgenden Herbst zogen Ratgebers in jenes Haus, in dessen Hoftrakt sich die Fabrik des Vaters befand. Engelhart hatte jetzt ernsthaft für die Schule zu arbeiten, wenn er vorwärts kommen wollte, doch er genügte keineswegs allen Ansprüchen und brachte vielfach schlechte Zensuren.
»Du bist nicht bei der Sache,« sagte Herr Ratgeber streng, »du träumst.«
»Er ist ein Duckmäuser,« fügte die Stiefmutter hinzu, »sieh ihn nur an, er hat keinen freien Blick.« Dieser Vorwurf traf den Knaben empfindlich; er wußte sein Auge nach innen beschäftigt, wenn ihn jemand anrief, riß er sich erst los von einem inneren Bild, aber dann fühlte er seinen Blick ohne Scheu, er fürchtete die Augen der Menschen nicht, höchstens die der fremden Frau, die er Mutter nennen sollte. Er konnte sich freilich nicht geben, sondern wollte genommen werden, doch liebte er die Menschen, und das mit jedem Tage mehr; selbst vom Gleichgültigsten zurückgestoßen zu werden, war ihm ärgerlich. Er suchte Zuneigung, Zustimmung, Einverständnis und gewahrte, wohin er auch sah, die Spuren halbverwischter, mühsam verdeckter Leiden und die Schatten des Hasses, alle quälten sich aneinander, einer schürfte sich am andern wund, auch im eignen kleinen Kreis war niemals Frieden. Die Sparwut der Stiefmutter überschritt jedes Maß, bei den Bekannten in der Stadt sprach man offen davon, daß die Ratgeberschen Kinder hungern müßten, Frau Karoline Curius schrieb es an Michael Herz nach Wien. Dieser gab nun seiner Schwester eine Summe in Verwahrung, sie solle sich der Kinder annehmen, und Engelhart solle wöchentlich eine