Engelhart Ratgeber. Jakob Wassermann
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Er ging in das dunkle Zimmer, und allmählich lösten seine Blicke die weiße Gestalt mit der weißen Binde um die Stirn aus der Dämmerung. An das Lager tretend, hatte er ein zerflossenes, böses Gefühl, wie wenn der Sturmwind Sand in die Augen treibt. Er fand die Mutter so verändert, daß er furchtsam den Kopf senkte und mit seinen Fingern spielte. Frau Ratgeber streckte den Arm aus dem Bette und suchte seine Hand, und er, rätselhafte Verstocktheit, machte es ihr nicht leichter, sondern stellte sich, als sähe er es nicht.
Frau Agathe war den Tag vorher operiert worden. Der Professor hatte schon wenige Stunden später gesehen, daß die Sache eine schlimme Wendung nahm. Der Tod, winzig wie ein Elf, wühlte in den geheimnisvollen Gängen des Ohres.
In der Nacht wurde Engelhart plötzlich vom Schlaf verlassen. Es umschauerte ihn; sein Herz wußte, was es verlieren sollte, es sträubte sich und fing an zu brennen wie eine Schnittwunde am Finger. Es spürte, was für Wetter nun heranziehen würde, und daß die Paradieseszeiten, paradiesisch Schmerz und Lust, vorüber seien. So kam ihm das Gefühl des Versäumnisses, zum erstenmal das Gefühl der Unwiederbringlichkeit, das wie ein schwarzer Schatten aus der Finsternis trat und ihm das Wort und den Begriff Verlust hinschleuderte. Das war kein Träumen mehr, sondern ein doppeltes Erwachen des Leibes und der Seele, kein Spiel mehr, sondern der wilde, unbewegliche Ernst.
Er nächtigte in dem Bretterverschlag, den sonst die Magd innehatte, verließ das Bett und schlich barfüßig in den Flur. Aber Nachtkälte und Nachtfurcht hauchten ihn an, er kehrte um und blieb, ohne zu schlafen, bis der Morgen graute. Dann kleidete er sich an und ging hinüber. Auf der Schwelle ihrer Wohnung stand kreidebleich das Fräulein Frühwald, den Kopf an den Türpfosten gelehnt. Es wurde dem Knaben kühl um die Brust, unsicheren Fußes betrat er das kleine Zimmer neben dem Wohnzimmer. Dort lag Herr Ratgeber auf dem Sofa, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, den Kopf zwischen den Armen, und gab Töne von sich, die wie Gelächter klangen. Engelhart ging weiter, endlich hatte er ein abgelegenes Plätzchen gefunden. Er lehnte die Stirn gegen den Rand eines eisernen Öfchens und sah seine Tränen vor sich auf den Boden fallen.
Später erschienen viele Leute, gegen Abend wurde der Sarg gebracht. Als es am dritten Tag zum Begräbnis ging, standen die Hausbewohner und die Nachbarn vorm Tor. Die Goldschläger hörten auf zu hämmern und traten in respektvoller Haltung auf die Straße. Der Major Friedlein schaute wie immer aus seinem Fenster, doch hatte er diesmal keine Pfeife. Bis der Zug zum Gottesacker kam, hatten sich unzählig viele Menschen angeschlossen, aus manchem Fenster hing ein schwarzes Tuch oder blickte eine weinende Frau.
Engelhart mußte die Schaufel nehmen und Erde ins Grab werfen. Als alles aus war, kam der Vetter Zederholz, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Lieber Sohn, so etwas kommt nicht zum zweitenmal.« Er blickte freundlich und traurig zugleich auf den Knaben, und zwischen den Fettfalten seiner Wangen glänzte es feucht.
So war die schöne Seele hinunter. Es war, als ob sie nie gelebt, als ob ihr Lächeln nie gelebt hätte, ihr volles, wahres Auge, ihr karges und wohlgemeintes Wort. Nur die toten Dinge blieben: die Straße und das Haus; das Bett, in dem sie geruht; der Teller, von dem sie gegessen.
Schlimm, daß Engelhart durch einen äußerlichen Trauerdienst der Trauer seines Gemüts entführt wurde. Jeden Morgen, sobald der Tag graute, mußte er aufstehen und zum Gebetshaus eilen, um das Totengebet dort laut zu beten. Jeden Morgen allzu früh riß ihn eine rauhe Hand zum Wachsein auf, und noch halb schlafend wankte er durch die Gassen. Gott wolle es und das Seelenheil der Mutter, sagte man ihm. Er glaubte nicht an einen Gott, der dieses wollte, er verhielt sich feindselig gegen einen Gott, der es darauf abgesehen hatte, seinen Schlaf zu zerreißen. Das war schlimm, denn dadurch wurde sein Himmel plötzlich leer. Innerliche Güter statt in Kämpfen in verstimmter Selbstsucht verlieren, heißt ohne Würde und Gewinn verlieren. Freilich war Engelhart darin von je ungeleitet geblieben, der Vater stand diesen Dingen scheu gegenüber, es war ihm unbequem, daran zu rühren, und er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken; die Mutter, einfach in ihrem Glauben wie in ihrem Wesen, hatte gemeint, das wüchse von selber in der Brust wie der Baum in guter Erde. Aber es kam kein Baum heraus, nur ein schmächtiges Reis, das vor dem ersten Windhauch zerbrach. Zudem lebte das werdende Geschlecht damals in einer Luft nüchterner Praktiken, und der höhere Sinn fand in kränklicher Sehnsucht sein Heil.
Kurze Zeit nach Frau Agathes Tod sagte Ketti den Dienst auf. Es blieb unbekannt, was sie vertrieb. Zu einigen Leuten äußerte sie, sie wolle nicht bei mutterlosen Kindern bleiben. Man wandte ein, daß sie nun erst recht nötig und am Platze wäre, aber sie sagte, es täte ihr zu weh; sie möge auch keinen andern Dienst mehr annehmen und gehe in ihre Heimat. Sie war zehn Jahre im Haus gewesen, und Herr Ratgeber ließ sie ungern ziehen. Er war den ganzen Tag im Geschäft, zu Mittag schlang er hastig seine Mahlzeit hinunter, warf kaum einen Blick auf die Kinder, zündete die Zigarre an und ging wieder. Die Verwandten sagten ihm, daß die Kinder auf diese Weise verwildern müßten, auch kostete der kleine Haushalt mehr als je zu den Zeiten der Frau. Da entschloß er sich, eine Wirtschafterin zu nehmen, und er hielt Nachfrage nach einer entsprechenden Person, die zugleich eine gewisse Geistesbildung besitzen sollte. Es dauerte nicht lange, da erschien ein großes blasses, blondes Frauenzimmer im Haus, und Herr Ratgeber glaubte gut gewählt zu haben. Wenige Tage, nachdem das Fräulein, dessen Name Adele Spanheim war, seine Stellung angetreten hatte, übergab er ihr das Wirtschaftsgeld für drei Monate und reiste fort. Mehr als je träumte er jetzt von Reichtum oder doch von behaglicher Wohlhabenheit; er spannte alle Kräfte an, um sich auf jene Höhe des Lebens zu schwingen, auf der man von den Menschen geachtet werden muß; es war, als ob das nun erstarrte Herz ihm keinerlei Rücksichten des Gefühls auferlegte, er mußte nicht und nirgends mehr verweilen, konnte sich völlig seinen Projekten hingeben, und wenn ihm auch nicht vergönnt war, ins Weite hinaus zu wirken, das wußte er, so wollte er doch in seinem Kreis etwas gelten. Er war nie ein Jammerer, er beklagte nie sein Geschick; diese Kraft, sich zu verschließen, entfremdete ihn aber auch der Teilnahme der denk- und gemütfaulen Leute, die rings um ihn gemächlich ihre Existenz bauten.
Adele Spanheim verlangte blinden Gehorsam von den Kindern. Die beiden Kleinen bequemten sich dazu, sie konnten ja noch nicht sehend wollen. Engelhart widerstrebte trotzig. Das Blut schoß ihm in die Stirn, wenn sie lachend einen Befehl gab, nicht aus Einsicht, sondern aus bloßer Lust am Kommandieren. In einem ihrer wöchentlichen Berichte über die Ausgaben und die Vorfälle im Haus, die sie Herrn Ratgeber zu senden hatte, klagte sie, daß Engelhart ihr ohne den gebührenden Respekt begegne und daß es ihr schwer falle, gegen seine freche Selbstherrlichkeit aufzukommen. Darauf schrieb Herr Ratgeber zurück, wenn sich der Knabe nicht bessern wolle, erlaube er ihr jede Form der Züchtigung. Diese Briefstelle las ihm das Fräulein vor. Engelhart vernahm mit Unglauben und Schmerz des Vaters Worte, die so fremdartig aus der Ferne klangen, so kaltherzig auf dem Papier standen. Er forderte Fräulein Spanheim auf, ihm den Brief zu zeigen, sie willfahrte, und es wurde ihm leicht, die schönen klaren Schriftzüge zu lesen. Niedergedrückt schlich der Knabe im Haus umher und stellte sich, des schlechten Wetters nicht achtend, unter das Haustor. Die anbrechende Nacht verscheuchte ihn, und als er hinaufging, hatte er Kopfschmerz und jagende Hitze. Adele Spanheim sah ihn bleich hereinschwanken und wurde besorgt. Sie entkleidete ihn und strich ihm kosend über das Haar, aber ihr verändertes ängstliches Benehmen beleidigte seinen Stolz.
Er bekam den Scharlach in der gefährlichsten Form, lag vier Tage bewußtlos, bäumte sich aus der pflegenden Hand und schrie vor sich hin. Danach, als er genas, füllte sich seine Brust mit Süßigkeit, es wurde ihm offenbar,