Engelhart Ratgeber. Jakob Wassermann

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Engelhart Ratgeber - Jakob Wassermann

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ihn zeit seines Lebens von Mühsal zu Mühsal und von Mißlingen zu Mißlingen.

      Nun gab es einen Mann in der Stadt, der das Treiben des Herrn Ratgeber mit der größten Neugierde verfolgte. Er hieß Teilheimer, hatte brandrote Haare, ein mit Sommersprossen bedecktes Gesicht, und sein Beruf war, über die Angelegenheiten seiner Mitbürger aufs genaueste unterrichtet zu sein. Er saß zum Beispiel im Wirtshaus und summte scheinbar achtlos vor sich hin. Da ging der Weinhändler Strunz am Fenster vorüber. Teilheimer zwinkerte listig mit den Augen und sagte: »Schau, schau, da geht der Strunz zum Bezirksarzt, um seinen fälligen Wechsel einzukassieren; wird ihm aber nichts nutzen, der Mann hat selbst kein Geld und der Schwiegervater gibt nichts mehr her; böse Geschichte.« Oder man redete in einer Gesellschaft über das gesunde Aussehen und die Frische einer schönen Frau, was den roten Teilheimer zu der beiläufigen Bemerkung veranlaßte, daß diese Frau den Krebs in der Leber sitzen habe und daß ihr nur noch ein Jahr und etliche Tage zu leben vergönnt sei.

      Dieser magische Seher machte sich auf, um Herrn Ratgeber beizustehen. Eines Tages kam Engelhart von der Schule und stürmte ins Zimmer. Da sah er den Vater am Ofen stehen, den Kopf gebückt, in unbewegliches Nachdenken versunken. Am Tisch ihm gegenüber saß der rote Teilheimer, ein Bein übers andre geschlagen, einen Zigarrenstummel mit vergnüglicher Miene über die Lippen wälzend und einen Bleistift auf ein mit Zahlen beschriebenes Blatt bohrend, als ob er den Speer in die Brust eines Besiegten tauche. Sein Auge blitzte feldherrnhaft, als er dem Knaben mit einer Handbewegung das Zimmer verwies. Am darauffolgenden Nachmittag war es wieder so, nur daß noch Iduna Hopf dabei war; Herr Ratgeber stand wieder vor dem Ofen und schien qualvoll unentschieden, der rote Teilheimer spießte wieder den Bleistift kühn in die Zahlenleiber. Iduna Hopf machte dem Knaben ein Zeichen, er aber wollte es nicht verstehen und blieb in ahnungsvollem Trotz. Da sagte Iduna Hopf, gegen Herrn Ratgeber gewendet: »Da sieh mal, Joseph, wie vernachlässigt der Junge herumgeht.« Herr Ratgeber blickte zerstreut und unruhig in des Knaben Gesicht.

      Eine Woche später kam Herr Ratgeber zu früherer Stunde als sonst nach Haus, schritt erregt im Zimmer auf und ab, befahl der Magd, sogleich sein Essen zu bereiten, er fahre über den Abend nach Nürnberg. Dann kleidete er sich sonntäglich an, kam wieder zu den Kindern heraus, pfiff leise vor sich hin, öffnete, als sei ihm zu heiß, das Fenster und beugte sich eine Weile hinaus. Inzwischen war der Braten aufgetragen worden, er setzte sich zu Tisch, und da ihn die Kinder andächtig umstanden und jedem Bissen nachschauten, der in seinem Munde verschwand, schnitt er drei gleich große Stücke Brotes ab, legte auf jedes eine Scheibe Fleisch und teilte aus. Während sie alle drei schmausten, gab er sich einen Ruck und sagte: »Ihr werdet jetzt eine neue Mutter bekommen, damit wieder Ordnung unter euch ist. Seid anständig und macht mir Ehre.« Er vermied es bei diesen Worten, seine Augen vom Teller zu erheben, doch bevor er aufstand, richtete er den Blick mit plötzlicher Strenge auf Engelhart, der den Vater atemlos anstarrte.

      Am folgenden Tag, noch vor Tisch, traten zwei fremde Frauen ins Zimmer. Die eine von ihnen sagte: »Guten Tag, Kinder, gebt mir die Hand, ich bin eure neue Mutter.« Sie hatte ein süßliches Wesen. »Sehr schöne Kinder,« sagte die andre Frau, die eine helle kalte Stimme hatte. Darauf begaben sich beide an die Besichtigung der Wohnung und unterwarfen jedes Möbelstück und jedes Porzellanfigürchen einer eingehenden Beurteilung.

      Engelhart verhielt sich stille, an manchen Tagen aber kam es über ihn und trieb ihn umher wie einen Ball, der von unsichtbaren Händen von einem Eck ins andre geworfen wird. Da fand er die Kleider zu eng, das Haus zu klein, den Himmel zu niedrig, und er lief ohne Sinn und Ziel durch die Gassen, bis er in einem Winkel Halt machte und in die Luft starrte. Er hatte in einem Buch die Geschichte gelesen von dem der auszog, das Gruseln zu lernen, und diese Geschichte machte Eindruck auf ihn durch etwas, das hinter den erzählten Vorgängen steckte, wie in einem Nebel des Grauens hin und her wogend. Er spürte die Kluft, die ihn von jenem trennte, der das Gruseln nicht lernen konnte, denn im Anfang seines Denkens war die Furcht, Furcht vor dem Ungewissen, Unsichtbaren, Unnennbaren, Furcht mitten in der Freude und im Spiel. Zagend stand er einem dämonenhaften Wesen gegenüber, dessen Wille es ist, zu zerstören und irrezuführen, den freifliegenden Wunsch aufzufangen und an die Erde zu fesseln.

      Im sogenannten Feldschlößchen, eine halbe Stunde von Nürnberg entfernt, feierte Herr Ratgeber seine zweite Hochzeit. Die Kinder saßen an diesem Tag in dumpfer Spannung zu Hause. Gegen Abend brachte jemand von der Hochzeitsgesellschaft eine Torte und Grüße vom Vater, der mit seiner neuen Frau schon abgereist war. Die Botschaft wurde kaum gehört, alle machten sie sich über die Torte her, auch die Magd erhielt ein Stück, und um sich erkenntlich zu zeigen, verschwand sie dann und überließ die Kinder für den ganzen Abend sich selber. Sie befanden sich im großen Wohnzimmer, und Engelhart beschäftigte sich, die Aufsichtslosigkeit nutzend, mit der großen Wanduhr. Er liebte diese Uhr und die lautlosen Schwingungen des gelbfunkelnden Perpendikels; er suchte eine Seele in ihr. Zu diesem Zweck stellte er einen Schemel auf einen Stuhl, kletterte hinauf, öffnete den Glasdeckel und lauschte dem heimlichen Rädergesurr; bisweilen gab es ein Geräusch, das einem Seufzer glich. Nach einer Weile begann er an dem Zifferblatt zu hantieren, es gelang ihm, eine Schraube zu lockern, und auf einmal hatte er beide Zeiger in der Hand. Er erschrak, ihm war zumute, als seien einem lebenden Wesen die Arme abgefallen; umsonst probierte er, das Übel wieder gut zu machen, plötzlich stieg er herunter und legte die Zeiger kleinlaut auf die Kommode. Es war ein ziemlich stürmischer Abend, das Feuer im Ofen war erloschen, die Kinder froren. Zudem ging auch das Öl in der Lampe auf die Neige. Auf der Straße und im Haus war es totenstill, Abel war am Tische sitzend über seiner Schiefertafel eingeschlummert, Gerda schlich eine Weile in dem düster werdenden Zimmer hin und her, dann drückte sie sich in die Ofenecke und fing an, leise vor sich hinzuweinen. Engelhart verbarg seine Gefühle, so gut es möglich war, er stellte sich gegen die Tür und horchte und wagte endlich zu öffnen. Draußen war’s finster. Er überredete sich zur Tapferkeit und schritt hinaus, um nach der Magd zu rufen. Doch war die Finsternis so groß, daß ihm das Geräusch des eignen Herzens Angst einflößte. Nie hatte er etwas so Teuflisches in der Nacht geahnt, er machte eine betende Bewegung mit den Armen, sein Auge fand aber keinen Aufblick. Dies machte die Finsternis doppelt schwer und öde, und da Gerda ängstlich seinen Namen rief, kehrte er zurück. Er schaute zur Uhr, um zu sehen, wie spät es sei, und das Grauen überlief seine Haut, als er ihr zeigerloses Blatt gewahrte und darunter den Perpendikel, ernsthaft schwingend, wie wenn nichts geschehen wäre. Es schien, als ob die Zeit ihr Maß verloren habe und die Nacht kein Ende nehmen würde.

      Acht Tage später spielten die Kinder im Flur neben der Stiege, Engelhart hatte aus Stühlen eine Kutsche gebaut, Abel war Postillon, Gerda, in einem unermeßlich langen, weit über die Dielen schweifenden Mantel der Mutter und einen großen Federhut auf dem Kopf, machte die vornehme Passagierin, und Engelhart war der Räuber, der die Kutsche im Wald zu überfallen hatte. Mitten im größten Getöse tauchten Herr Ratgeber und die fremde Frau, die neue Mutter, auf und blieben auf der halben Höhe der Treppe stehen. Herr Ratgeber, das Reiseköfferchen tragend, winkte den Kindern lachend zu, innezuhalten, die Frau schüttelte verdrossen lächelnd den Kopf, und ihre Blicke blieben auf Gerda haften, die vergeblich bemüht war, sich aus dem Reisemantel zu befreien.

      Von Stund an ging alles einen andern Gang im Hause. Früh, mit dem Glockenschlag sieben hieß es aufstehen; es war keine Minute der Besinnung erlaubt, kein Sichdehnen, kein Zurückdenken an die Träume, ein Rütteln an der Schulter und: heraus. Besonders für den kleinen krummbeinigen Abel war es hart, oft, wenn er schon gewaschen und angekleidet war, fielen ihm am Frühstückstisch die Augen wieder zu. Es gab keine Pfennige mehr zum Vesperbrot, und damit war eine der schönsten Vergnügungen zerstört: den Schulhof verlassen, über die Straße zum Bäcker laufen und so mit einigen andern, welche die gleiche Schicksalsgunst genossen, eine scheinhafte kurze Freiheit erobern. Nach der Schule mußte man in gemessener Zeit zu Hause sein, Frau Ratgeber haßte das Streunen. Am Abend, kaum war das Brot gegessen, hieß es wieder: ins Bett, ins Bett; kein Einwand galt, alles war Befehl und Regel geworden. Die neue Frau Ratgeber meinte es nicht schlecht mit den Kindern, sie glaubte das Rechte zu wollen und zu tun, auch wenn sie das Brot, bis auf den Millimeter berechnet, vorschnitt, Fleisch nur in den winzigsten Portionen verteilte, den Zucker zum Kaffee abschaffte, so daß das wasserdünne

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