Die Schlucht. Иван Гончаров
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»Wenn wir immer nur das Notwendige und Ernste gelten lassen wollten,« fuhr Raiski fort, »wie trostlos arm wäre dann das Leben! Nur das, was der Mensch sich ausgedacht hat, um es als Zutat zum Leben zu genießen – nur das verschönt es. Nur wenn man der hergebrachten Ordnung, der steifen Form, den langweiligen »Grundsätzen« ein Schnippchen schlägt, wird man der Freude teilhaftig . . .«
»Den Grundsätzen ein Schnippchen schlagen – wenn ma tante das Wort hören würde! . . .« fiel Sophie ihm ins Wort.
»Dann würde sie gleich rufen: Schweigen Sie, schweigen Sie!« versetzte Raiski. »Und was sagen Sie dazu?« fragte er. »Suchen Sie wenigstens das eine Mal ohne ma tante auszukommen! Oder wollten Sie vielleicht, durch die Autorität Ihrer Tante gedeckt, nur Ihre eigene Ansicht über das Abweichen von den Grundsätzen zum Ausdruck bringen?«
»Sie wollen natürlich wieder aus dem Wunsche der jungen Mädchen, meine Schuhe zu sehen, eine Haupt- und Staatsaktion machen, wollen mir tüchtig den Text lesen und mich dann zwingen, Ihnen zuzustimmen. Ist es nicht so?«
»Allerdings,« sagte Raiski.
»Wie kommen Sie eigentlich dazu, meine armen Grundsätze immer so scharf aufs Korn zu nehmen?«
»Weil es nicht Ihre Grundsätze sind.«
»Wessen denn?«
»Es sind die Grundsätze Ihrer Tanten, Ihrer Großmütter, Großväter, Urgroßmütter, Urgroßväter, kurz all der verblichenen Herren und Damen da in den Halskragen und Manschetten . . .«
Er zeigte auf die Porträts an der Wand.
»Da sehen Sie, wie viele Stimmen ich für meine Grundsätze zählen kann!« sagte sie scherzend. »Und für Ihre Prinzipien? . . .«
». . . Zähl’ ich tausendmal so viel Stimmen!« fiel Raiski rasch ein und schlug die Fensterportiere zurück. »Blicken Sie hinaus: all die Menschenkinder, die dort gehen und fahren und hin und her rennen, alle diese lebenden, noch nicht verblichenen Wesen bekennen sich zu meinen Prinzipien! Wohlan, Cousine, schließen Sie sich ihnen an, sondern Sie sich nicht ab von ihnen! Dort ist das Leben . . .« Er ließ die Portiere zurückfallen. »Und hier – ist ein Friedhof.«
»Sagen Sie mir endlich einmal kurz und bündig, Cousin: welches sind eigentlich die Prinzipien dieser Menschen da?« Sie wies nach der Straße hinaus. »Worin bestehen sie, und warum soll ich nun mit einemmal mich von Grundsätzen trennen, die schon so vielen eine Stütze im Leben gewesen sind, um neue Grundsätze anzunehmen? . . .«
»In Ihrer Frage ist auch die Antwort schon enthalten: ›gewesen sind‹ sagten Sie – und ich füge hinzu: und vermodert sind, samt jenen, die sie stützten! Die dort aber« – er zeigte nach der Straße – »sind nicht vermorscht und vermodert, sondern leben! Wie sie leben – das kann ich Ihnen hier nicht sagen, Cousine. Ich müßte Ihnen sonst das ganze Leben da draußen schildern mit allen seinen Einzelheiten, seinem lebendigen, modernen Pulsschlag. Doch was rede ich noch – ich habe Ihnen schon so viel davon erzählt, habe Ihnen Beispiele angeführt, und mit Ihnen diskutiert, und Ihnen vorgelesen . . . und alles war umsonst!«
»Bin ich daran schuld?«
»Allerdings, Cousine. Ich versteh’ mich doch, weiß Gott, aufs Erzählen, aber Ihnen ist eben nicht beizukommen, Sie sind unangreifbar, unerschütterlich und lassen sich aus Ihrer Festung nicht herauslocken . . . Ich strecke die Waffen!«
Er verneigte sich tief vor ihr, und sie sah ihn lächelnd an. »Seien wir beide unerschütterlich,« sagte sie, »bleiben wir jedes in seiner Festung! Seinen Grundsätzen treu bleiben – das ist, glaube ich, alles . . .«
»Es heißt nichts anderes, als seiner Blindheit treu bleiben: wahrlich, kein übermäßiger Heroismus! . . . Die Welt strebt nach Glück, nach Erfolg, nach Vollkommenheit . . .«
»Ich denke, ich selbst bin . . . die Vollkommenheit? Sie haben mir das doch erst vorgestern versichert, Cousin! Und Sie wollten es mir sogar streng logisch beweisen, wenn ich Ihnen nur hätte zuhören wollen . . .«
»Ja, Cousine, Sie sind vollkommen; aber die Venus von Milo, und die Köpfe von Greuze, und die Rubensschen Frauen sind doch noch vollkommener als Sie. Dafür sind Ihre Grundsätze und die ganze Art, wie Sie leben, das Gegenteil von Vollkommenheit!«
»Was soll ich denn nun tun, um dieses Leben und seine verzwickten Prinzipien, die ja auch die Ihrigen sind, zu begreifen?« fragte sie in ruhigem Tone, der deutlich bewies, daß ihr durchaus nicht daran lag, irgend etwas zu begreifen, sondern daß sie nur eben redete, um etwas zu sagen.
»Was Sie tun sollen?« erwiderte er. »Sie sollen zunächst einmal diese Portiere, die Ihnen das Leben verbirgt, vom Fenster zurückziehen und die Dinge mit offenen Augen ansehen – dann werden Sie begreifen, daß diese verblichenen Greise in den Goldrahmen da Sie ganz gewissenlos täuschen und belügen . . .«
»Cousin!« rief Sophie lächelnd, und man konnte deutlich hören, daß sie ihre Ahnen dem kecken Angriff gegenüber in Schutz nehmen wollte.
»Ja, ja, sie lügen!« fuhr Raiski leidenschaftlich fort. »Betrachten Sie einmal diesen gepuderten Alten da mit den stahlgrauen, durchdringenden Augen,« sagte er und zeigte auf ein Porträt, das gerade vor ihm zwischen den beiden Fenstern hing. »Er soll sehr streng gewesen sein, selbst den Seinigen gegenüber, und alles fürchtete sich vor seinem Blick. ›Halte dich würdig!‹ – scheint er Ihnen zuzurufen. Wessen würdig? Deines Menschentums, deiner Weiblichkeit? Nein – sondern deiner Abstammung, deiner Familie, und wenn, was Gott verhüte, sich dir ein Mensch naht, dessen Name erst von gestern stammt, der sich mit seinem eigenen Kopfe und seinen eigenen Händen emporgearbeitet hat, dann würdige ihn keines Blickes, und vergiß nie, daß der Name der Pachotins auch der deinige ist! . . . Nicht einen Blick, nicht ein Fünkchen freier, natürlicher Sympathie darfst du für solch einen Menschen haben! . . . Gott behüte dich vor einer Mesalliance! Und er selbst – wen hat er seines näheren Verkehrs für würdig gehalten, und wen nicht? ›Il faut bien placer ses affections!‹ sagt er in seiner starren, kalten Sprache, die nichts Menschliches mehr an sich hat. Wem hat er selbst seine affections zugewandt, wem sein Leben und seine Gesundheit geopfert? Gehörten seine affections jener hageren alten Dame mit dem spitzen Näschen, die sich seine Gemahlin nennen durfte?« Raiski zeigte nach einem zweiten Porträt, das eine ältliche Dame darstellte. »Sicherlich nicht, sie schaut so vergrämt drein, und ihre Augen liegen so tief in den Höhlen; sie ist ganz ebenso ein Opfer des guten Tons, der Wohlanständigkeit und der vornehmen Abstammung – wie Sie selbst, meine arme, unglückliche Cousine . . .«
»Cousin, Cousin!« suchte Sophie lächelnd seinem Redeflusse Einhalt zu tun.
»Ja, Cousine – Sie sind betrogen, getäuscht worden! Auch Ihre Tanten haben ein ganzes Leben in einer schrecklichen Täuschung hingebracht und sich einem Gespenst, einem Phantom, einer verstaubten Erinnerung geopfert . . . Er hat es befohlen!« rief er und schaute dabei fast wütend auf das Porträt. »Er ist selbst vor Täuschung, List und Gewalttat nicht zurückgeschreckt, er hat sein Vermögen verschwendet und die tollsten Streiche gemacht – andern aber hat er aufs strengste verboten, zu lieben und zu genießen!«
»Cousin! Wir wollen in den Salon gehen – ich habe Ihnen auf Ihren wunderbaren Monolog nichts zu erwidern . . . Wie schade, daß er so wirkungslos verpuffen muß!« bemerkte sie mit feiner Ironie.
»Ja, der Ahnherr triumphiert,« antwortete er. »Die Grundsätze, die er Ihnen vererbt hat, sind fest und solid.