Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
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Pfingsten. Am Himmelfahrtstage zu früh unterbrochen und aufs neue in den Strudel hineingetrieben, bin ich heute vom Gramenzer Mittagstische direkt wieder nach Raffenberg umgekehrt, um endlich den angefangenen Brief zu Ende zu bringen. Du kannst Dir denken, daß nach der Behandlung, die die Tagelöhner bis dahin genossen, ich in diesem Punkte eine unglaublich leichte und dankbare Stellung habe. Obgleich ich mir eine Strenge und Härte anzwinge, die ich mir bis dahin nie zugetraut habe, sind mir alle meine Leute in so kurzer Zeit so ganz zugetan und anhänglich geworden, daß ich mich fast täglich der Ausbrüche ihrer Dankbarkeit gewaltsam erwehren muß.
Ich denke übrigens, indem ich die Leute aus dem Elend gerissen, auch Herrn von Senfft bedeutend genutzt zu haben. Indem ich die Kräfte der eigenen Leute aufs äußerste durch Akkordarbeiten ausnutzte, das Gramenzer Betteln durch Hilfe an Ort und Stelle zu Ende brachte, Frauen und Kinder beim Rübenbau beschäftigte, ist es mir mit der Zeit möglich geworden, gegen 40 fremde Arbeiter und Pächterknechte teils zu entlassen, teils nach Gramenz zu schicken und hier wieder die Annahme von noch teureren fremden Leuten zu vermeiden. In ähnlicher Weise habe ich eine Menge kleiner Einrichtungen gemacht, die ich erst in Zechendorf, dann in Schoffhütten ausprobte und von da hierher nach Raffenberg verpflanzte. Ich habe den Leuten statt des bloßen teuren Roggens, von dem sie ausschließlich lebten, Kartoffeln und Gerste angeschafft, womit sie ein Drittel billiger auskommen. Ich zahle ihnen ihren Tagelohn statt vierteljährlich wöchentlich aus, wodurch sie zu doppeltem Fleiß angefeuert werden. Für die ganz verkommenen Familien lasse ich Suppe kochen, die sie für ein billiges erhalten, damit auch die Frau ohne häusliche Sorgen täglich mitarbeiten kann. Manchen messe ich ihr Mehl für ihre Suppe zu und bestimme danach, wie lange sie mit ihrem Scheffel auskommen müssen, weil ich erfahren hatte, daß sie in der Not, aber wohl auch zum Branntweinsaufen, das empfangene Korn teilweise wieder verkauften.
Ich halte mich notgedrungen beständig in Zusammenhang mit den Speisekammern fast sämtlicher Leute. Die Vorräte an Mehl, Kartoffeln, Salz und Milch muß ich stets im Gedächtnis haben. Das Ganze ist im eigentlichen Sinne des Worts meine eigene Haushaltung. Denn indem ich das Schicksal sämtlicher Leute von der Gramenzer Inspektoren-Kamarilla losband, habe ich auch ihre ganzen Schulden, gegen 300 Taler, persönlich auf mich genommen, zwar nicht mit der Verpflichtung, sie der Gramenzer Gutskasse wieder zu bezahlen, aber doch mit dem Versprechen, darin mein Bestes zu tun. Ich erhalte nun wöchentlich aus der Gutskasse meinen vollen Tagelohn für alle Leute, mit dem ich nach besten Kräften für die Leute wirtschafte. So habe ich also außer meiner ausgedehnten landwirtschaftlichen Tätigkeit auch eine große Familienhaushaltung, die neben manchem andern Lehrreichen auch für mich das Gute hat, daß ich im steten Zusammenhange mit so großer Armut und so großen Entbehrungen mit meinem eigenen Lose recht von Herzen zufrieden sein kann und mir auch für die Zukunft jede Entbehrung leicht werden wird.
Übrigens ist meine jetzige Lebensweise auch keineswegs üppig zu nennen. Am frühen Morgen Raffenberg mit einer Tasse Milch und einem Stück Brot im Magen verlassend, kehre ich der Regel nach erst abends gegen zehn dahin zurück, zu müde, mehr wie einen Teller saure Milch zu vertilgen. Den Tag über auf meinen Vorwerken wird nach Umständen gelebt, mitunter ein Butterbrot, mitunter ein paar Kartoffeln oder Eier, mitunter gar nichts. Dabei befinde ich mich aber so gründlich wohl und kräftig, daß ich es nicht beschreiben kann.
Mein täglicher Ritt beträgt in gradester Richtung mindestens zwei gute Meilen, wozu dann häufig noch die dritte und vierte kommt. Der Weg ist indessen entweder so hart oder bei nassem Wetter so schlüpfrig, das Terrain so hügelig, so viel Moraste, Gräben und mühsame Pfade, daß von scharfem Reiten selten die Rede ist und daß die Zeit zu Pferd mir immer eher eine angenehme Erholungszeit für Geist und Körper als eine Anstrengung ist. Die Szenerie ist zum großen Teile wirklich so lieblich und wird für mein Auge mit jedem Tage so viel lieblicher, daß ich Euch auf Eurer Reise im Thüringer Walde gar nicht zu beneiden brauche.
Jeden frühen Morgen führt mich mein Weg durch den im frischen üppigen Grün prangenden Buchenwald, meist auf selbstgesuchten näheren Pfaden, wo ich oft Zweig für Zweig zurückbiegen oder gebückt durch Laubengänge kriechen muß. Und des Abends, so wie gestern zum Beispiel, kehre ich im Mondschein wieder zurück, am liebsten an den Bachufern entlang, wo die Nachtigallen seit drei Wochen schon fleißig am Singen sind. Meine Feldmarken selbst aber sind wie aus der schönsten westfälischen Landschaft herausgeschnitten, mit Eichengruppen, kleinen Wiesen, Hecken und zerstreuten Pächterwohnungen mannigfach verziert; dazu dann eine weite herrliche Aussicht über das ganze Gramenzer Gelände (denn Schoffhütten und Zechendorf liegen wohl mehrere hundert Fuß über den Gramenzer Wiesen). Da geht mir nicht selten das Herz so auf, daß ich laut aufjauchzen möchte vor Fröhlichkeit.
Zu andern Zeiten kann ich dann freilich auch eine gewisse Wehmut nicht zurückweisen, wenn ich die schönen alten Pächtereien, auf denen oft ein und dieselbe Familie hundert Jahre gewohnt hatte, nun verwaist und verlassen stehen sehe, und nicht selten trifft man auf Leute, denen in Erinnerung an ihre alten Wohnstätten, die sie als ihr Eigentum anzusehen sich gewöhnt hatten, die Tränen in die Augen treten. Wie weit da nun Recht oder Unrecht waltet, kann ich nicht beurteilen, geht mich auch gar nichts an. So viel weiß ich aber, daß so viele Leute ihres heimatlichen Landes beraubt sind, ohne daß bis jetzt Herrn von Senfft der geringste Nutzen daraus erwachsen ist. Denn das den Pächtern genommene Land ist teilweise in Hände geraten, die es noch mehr mißhandelt haben wie jene.
Der jetzige Oberinspektor aber, dahinter sind wir bald genug gekommen, ist in der Tat ein höchst untüchtiger Mann, der seiner Stellung nicht im geringsten gewachsen ist. Er hat in sehr wilder und leichtsinniger Weise darauf losgewirtschaftet, Land und Leute verdorben und Herrn von Senfft großen Schaden gemacht. Es ist daher auch bald ein drückendes Verhältnis zwischen Ernst und mir auf der einen Seite und ihm auf der andern Seite eingetreten. Wir kamen zuerst mit unsern Verbesserungsvorschlägen zu ihm. Aber da wir von ihm zurückgewiesen wurden, hielten wir uns bald für verpflichtet, sie durch Herrn von Senfft selbst durchzusetzen, der uns in allen Stücken ein fast zu großes Vertrauen schenkt. Dadurch ist nun der Mann moralisch sehr heruntergedrückt, während unser Wirkungskreis sich sehr erweitert hat. Einmal mißtrauisch geworden, haben wir uns bald verpflichtet gefunden, überall mit zuzusehen, haben in der Fruchtfolge geändert, im ganzen Leutewesen reformiert, ohne des Oberinspektors Einwilligung das Rechnungswesen umgestaltet usw. Dadurch sind wir allmählich sehr mächtig geworden und sind fast wider unsern Willen in eine Stellung hineingeraten, der wir gar nicht recht gewachsen sind.
Zum Schluß will ich nur noch sagen, daß unser Familienleben, nämlich Ernst Senffts und meins, einzig ist und daß die Freude, mit dem unvergleichlichen Jungen zusammen leben zu können, alle andern Freuden, die mir hier Natur und Beruf reichlich gewähren, weit übersteigt. In einem kleinen Zimmer, mit allem möglichen Studentenflitter ausgestattet, hausen wir auf das lustigste, präsidieren bei Tafel über zwei Wirtschaftslehrlinge und einen Schulmeister, denen gegenüber wir die Würde zweier Wirtschaftsprinzipale einzunehmen wissen. Daß bei unserer jetzigen Tätigkeit nicht viel von theoretisch-wissenschaftlichen Studien die Rede sein kann, magst du leicht denken. Gleichwohl passiert es uns gar häufig, daß wir uns des Abends unwillkürlich aus übergroßer Müdigkeit aufrütteln und uns über irgend einem unserer guten alten Klassiker bis tief in die Nacht hinein ergötzen oder uns an beiderseitigen reichen Erinnerungen aus den letzten Jahren, die wir noch lange nicht alle ausgetauscht haben, beglücken.
In der leisen Hoffnung, wenn nicht Dich selbst, so doch eins der Schwesterchen mit Herrn von Senfft von Berlin ankommen zu sehen, bin ich freilich diesmal getäuscht worden, hoffe aber doch noch einmal, Dir und ihnen unsere Herrlichkeit hier zeigen zu können.
Verzeih mein wildes, unruhiges,