Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann

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und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt, und in ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit enthalten. Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein Schatten in Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas Ungewöhnliches, daß zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der nicht Eile zeigte, schlafen zu gehen.

      Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloß. Herr Maspero, Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der Spielflinte eines Knaben an die großen Schlachtenkanonen denkt. Dann verabschiedete er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den öden Flur seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine nimmermüde Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen ließ. Sechstausend Nachte und mehr noch lief das Werk im stummen Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, kreischte der Schlüssel im verrosteten Schloß, und der Zwergdoktor sagte irgend einem gute Nacht, der vor dem Tore stand, riegelte sich ab von der Welt, machte die alten Dielen durch seine kleinen Füße knarren, hob an der Treppe das Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich, das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Unsichtbare Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus emporzuwachsen, vom Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit gelangten, die beiden geschäftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben zu heißen. So wird den Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr: die Hausmauern, von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, dessen Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt: die Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen der Schuster von Jahr zu Jahr größere Stiefeln machen muß.

      Am nächsten Tag wußten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis elf war Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der Lehrer, die Hände auf dem Rücken, hin-und hergegangen und hatte unaufhörlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht, so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom Anblick der Zerrüttung und des Übels. So sprach der Unbesonnene zu Kindern: Dinge, die weitab vom Kreis seines Amtes lagen, und sein Mund zitterte unter dem buschigen, herabhängenden Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war, setzte er sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim Bäcker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit auch den Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest auf einen Punkt in der Wüste Saharah gerichtet, dann liefen seine Augen meridianaufwärts über Hellas und den Hellespont, durchsegelten das Schwarze Meer und blieben stumpfsinnig nach rascher Landwanderung in der Nähe Sibiriens liegen. »Sie werden sich erkälten bei solchem Klimawechsel,« scherzte der Doktor.

      »Überall da leben Menschen,« erwiderte der Lehrer, mit einem vertieften Ausdruck emporblickend. »Lauter fremde Menschen.«

      Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. Er fragte sich umsonst, was er sagen solle.

      Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des Nachmittags verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen den Bänken umher, und beruhigte so den ängstlichen Geist der Kinder wieder. Gegen Abend klopfte es an die Türe von Unruhs eigenem Zimmer und Apollonius Siebengeist trat ein, warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb sich am Ofen die Hände wie jemand, der einträgliche Geschäfte gemacht hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. »Eine gemütliche Stube haben Sie da,« sagte er, sich fröhlich umschauend. »Ich komme zu Ihnen, weil ich niemand hier weiß, mit dem sichs plaudern laßt. Die meisten Leute, mit denen man redet, hören gar nicht, sondern besinnen sich nur auf die Antwort. Heute brauch ich aber partout einen Zuhörer und ein warmes Öfchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen aus wie der selige Griesgram.«

      »Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,« murmelte der Lehrer klagend.

      Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. Dann machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm außerordentlich gut stand, trat dicht vor den Lehrer hin und legte beide Hände auf dessen Schultern. »Und wenn ich Ihnen nun verspreche, daß Sie Ihren Schatz wiederhaben sollen?« fragte er lächelnd.

      Philipp Unruh sprang auf. »Sie wissen? Was verlangen Sie dafür?« rief er mit überraschender Leidenschaftlichkeit.

      Siebengeist lachte und errötete. In seinen Augen war ein so merkwürdiges, verlorenes Glänzen, daß es wohl jeder bemerkt hätte, der sich besser auf Menschen verstand als dieser Philipp Bücherwurm. »Allerdings verlange ich etwas dafür,« sagte Siebengeist, und sein Lächeln kehrte wieder, das jetzt etwas Durstiges und Gedankenfernes hatte. »Sie kennen doch den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem Kleister so königlich hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie heute ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das Stück aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majestätischen Herrn zu kommen, knüfen ein Gespräch an, indem Sie sich entzückt stellen über seine Leistung als Graf oder General oder Bettler, was er eben in dem Stück vorstellt. Der Mann wird butterweich werden, oder ich kenne die Komödianten nicht. Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen, laden ihn vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra zu sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben Sie sich den Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan nicht.«

      »Myra,« redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was er solle.

      Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die Stirn und fuhr etwas leiser und eintöniger fort. »Wenn der würdevolle Schuft nicht reden will, so schieben Sie ihm Geld in die Hand. Ich gebe Ihnen, was Sie brauchen. Fragen Sie also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt, weshalb sie sich beim Theater aufhält, ob sie… ob sie Liebschaften hat oder gehabt hat, – nun, jetzt wissen Sie ja’ genug. Heiliger Himmel!« Er lachte überstürzt, setzte sich am Ofen nieder und schaute in die Glut. Dann, als verstünde er das Schweigen des Lehrers, begann er wieder und redete in das Ofenloch hinein: »Fürchten Sie nicht, daß Sie etwas Unehrenhaftes tun. Sie retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst kann es nicht übernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht aussprechen, ohne etwas zu spüren, – eine innere Feuersbrunst! Und müßte ich hören, wovor mir schon in Gedanken graut, ich erschlüge den Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim Theater reden wasserklar einer über den andern. Nun, Schulmeister, wollen Sie das unternehmen für mich? Hier ist das Billett; alles ist vorbereitet.«

      Der Lehrer zauderte, fremdartig berührt durch das Wesen des jungen Mannes. Die Versprechung mit den Büchern erschien ihm plötzlich märchenhaft, wie alles, was der Provisor tat und sagte. Aber auch das erriet Siebengeist mit der sicheren Gabe des von seinen Zwecken ganz erfüllten Menschen. »Ihre Bücher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder haben!« rief er und fügte mit übertriebenem Pathos hinzu: »Es sind da infame Ränke im Spiel, die ich zerstören werde.«

      Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand, schüchtern und voller Zweifel. Siebengeist lächelte freudig und unbefangen und zeigte seine weißen Zahne. »Ich vertraue Ihnen darum das alles,« sagte er nun wieder in seiner natürlich gewinnenden Weise. »Sie sind ein Stiller, ein stiller Freund. Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich hätten, könnten Sie weiter oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie da erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen nicht, was für mich davon abhängt. Beobachten Sie jedes Augenzwinkern, jeden Gedankenstrich in der Rede. Die Leute sagen vieles ohne Worte. Helfen Sie mir heute, und ich will Sie als meinen liebsten Freund betrachten.«

      Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch kühle Seelen erwärmt hätte. Der Lehrer hörte verwundert zu und beinahe mechanisch fragte er: »Warum

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