Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann страница 31
Eine dröhnende Stimme rief: »Myra!« Die Weinende verstummte, erhob sich und ging gegen das Haus. Philipp Unruh wartete lange, denn er wollte nicht, daß ihn jetzt jemand aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte die Ruhe der Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erfüllt vom Widerhall jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel des Handwägelchens, das unter seiner Last ächzte. Ihn erstaunte es, daß er nun in demselben engbegrenzten Raume war, in dem Minuten vorher Myras Herz geschlagen. Als ob er sich eines Amtes unwürdig fühle, erhob er sich wieder, und seine Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine äußere Erscheinung, auf seine wenig einnehmenden Züge, auf seinen zerzausten, rötlichen, herabhängenden Schnurrbart. Ungeduldig verließ er die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie groß war aber sein Schrecken, sein feiger Schrecken, als er Myra noch auf der Schwelle stehen sah und hinausstarren in die Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten Lichts, das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich jäh belebte, als sie ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch blieb er nicht stehen und befand sich bald vor ihr, die sich an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei zu lassen. Er spürte ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie verstört von der Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu gehen, und er murmelte, indem er sich bemühte, einen teilnehmenden Ton zu wählen: »Ich habe gehört. Aber zürnen Sie nicht deshalb.« Gott weiß, weshalb ihm das alles abenteuerlich und entlegen vorkam und er an seine Bücher dachte, wie an rettende Freunde.
Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf.
»Kann da niemand helfen?« fragte Philipp Unruh in kindischer Unbeholfenheit, und als er das geringschätzige Zucken ihres Mundes bemerkte, sagte er stotternd: »Ich denke, man hat die Ratte da drinnen schon erwischt.«
Das junge Mädchen sah den sonderbaren Kauz mit Überraschung an, lächelte und erwiderte: »Ja, das ganze Nest ist leer.« Damit entfernte sie sich.
Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem Glücksgefühl beschenkte. Vielleicht war es nur das Lächeln, das mit eines Gedankens Schnelligkeit über Myras nachdenkliches und erschöpftes Gesicht geflogen war. Vielleicht, daß er das Lächeln einkassierte wie den Gewinst aus einer Lotterie, und daß dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen Vernachlässigten, die sich plötzlich auffallend vom Glück begünstigt sehen. Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig ein Glas Bier; darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden Schritts betrat er die schon verödeten Straßen. Wer schrie da schon wieder beim Haus des Hufschmieds und schwenkte grüßend den Hut, um dann schweigend wie vorher seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen fabelhafte militärische Würde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und schaute ihm nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein Vermögen im Spiel verloren und Weib und Kind in Armut, dem Tod geweiht, verlassen hatte, der Goldgräber gewesen war und die neugewonnenen Schätze bei einem Schiffbruch eingebüßt hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begrüßte lärmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit sich selber, ein Rätsel für alle und für Philipp Unruh mit einem Mal eine Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine ganze Bibliothek. Man konnte hingehen und ihn fragen, und er konnte erzählen mit Lachen und mit Weinen; in Büchern aber erzählte nur der Tod in einer bunten Maske. Der Nachtwächter trottete vorbei, ließ sein Pfeifchen schrillen und leierte seinen Singsang ab: daß man Feuer und Licht bewahren solle. Das schläfrige Gesicht glänzte über der Laterne, und er grinste trunken in den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die langsamen, dröhnenden Stundenschläge, um weit hinauszuschallen in das Tal der Altmühl, in den Wald und in die nahen Dörfer, ein Signal der Ruhe für Weib und Mann, für die Flucher und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, für den Adjutanten und für Myra. Es war nicht zu leugnen, daß im Schlaf die Zeit dahingeflossen war, während ungesehen und dem Schläfer greifbar nah das Lebendige sich abspielte in Feierlichkeit und in Humor.
Siebentes Kapitel
Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem Lehrer auf, und unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp Unruh sein Versäumnis eingestand. Er schrie, daß man ihn betrogen und verraten habe. Er sagte Schulmeisterlein, und das in einem Ton, der beleidigend wirkte. Schließlich aber umarmte er den Geschmähten und sagte, daß er ihm danke, denn er liebe seine Zweifel mehr als jene Gewißheit, vor der ihm bangte. Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gelöscht. Er suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter Gast ein abenteuerlich aussehender Jüngling am Ofen saß. Es war der Komiker des Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen Gespräch ergabt Wie alle Komiker von Beruf war auch dieser nichts weniger als komisch, sondern litt an einer bösartigen Dürre des Witzes, die ihm ein gramvolles und verruchtes Aussehen gab. Siebengeist ließ eine ansehnliche Schar von Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war es noch weit. Der Jüngling erzählte bald von Myra, und es zeigte sich, daß seine Sprache einen Klang ins Böhmische hatte, welcher nicht so sehr die Verständlichkeit als musikalische Wirkungen förderte.
Wiederum stand der Mond in klarer Höhe, als Siebengeist heimwärts kehrte, aber nicht mehr als »sein Feind«. Es herrschte in den Gassen eine Stille, für deren Süßigkeit und Lockung es nicht Worte noch Gedanken gab. Was da zwischen den Häusern zog und ruhte, war wie blaugrünes, zartes Gespinst, Mondrauch; der Schnee glänzte kalt wie weißer Atlas. Eine Nacht für Myra; wenn sie auch litt, er wußte doch wofür und Wahrheit mußte es sei. Trübe Dinge, die ein Komiker erzählt, sind wahr. Sie hatte kein Wanderleben geführt. Die Mutter hatte als Witwe in einer kleinen thüringischen Stadt gelebt, wohin Schmalichs Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden, durch Romanlektüre verdorben und unerfahren, hatte sich die noch junge Frau dem jungen Liebhaber der Schmiere an den Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der »Kunst« ein Opfer bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da an mußte sie in Wirrheit und Fährlichkeit gerissen worden sein. Der Mutter schwärmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende Kälte, spürte zuletzt nicht ihren Haß. Myras Mutter, so sagte der Komiker, war eifersüchtig auf die Tochter, und diese Eifersucht durchtränkte ihre Handlungen bis in den feindseligen Ton eines bloßen Grußes. Myra wußte nicht, wie ihr geschah. Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite ihrer Mutter dem Wanderleben der Komödianten. Und in Bamberg war sie eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen Gasthof und las die dürftigen Abschiedsworte der Mutter. Man erinnerte sich bei der Truppe, sie ohnmächtig im Zimmer des Direktors gesehen zu haben. Sie hatte nicht Geld noch Kleider noch Freunde, nichts, als was sie sich selbst sein konnte. Man erinnerte sich des Tags, an dem sie zum erstenmal im Schauspiel aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns für die genialen Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs Ansicht war, daß ein reisendes Theater hübsche Frauenzimmer brauche, und daß man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges umschminken könne. Man hatte Myra niemals anders gesehen, als sie heute war, und heute schon war es, als trüge sie das Bild kommenden Unheils im Herzen. Solchen Augen kann kein Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden nehmen. Zwischen Lügen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher Armut lebte sie vielleicht gleichmütig, vielleicht abwartend hin, und Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu früh erschien ihm ein Geheimnis gelüftet, das ihm beim Wein offenbart worden. Zu früh nahm er das Geschehene als vergangen, ließ er seiner Hoffnung freien Lauf. Und zwischen ihm und dem andern Einsamen im Schulhaus spann die Nacht die gleichen Fäden der gleichen Gefühle und trieb irgendwo das Verhängnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, daß es weiter weben möge, was sie spielerisch begonnen.
Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat. Es handelte sich um eine gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen Reden aus der Geschichtsstunde waren beunruhigend zu den Ohren der Schulbehörde gedrungen. Der Herr Schulrat hatte ein Bläschen auf der Nase und außerdem ein Horn auf der Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet hatte. Beide