Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann страница 41
Was er mit den Launen meinte, konnte ich mir nicht enträtseln. Es war mir eine Pein, ihn zu hören, andrerseits rührte mich sein Wesen, und er erschien mir durchaus nicht als böse. Ich wußte nur unbestimmte Redensarten zu erwidern. Meine Situation kam mir ebenso bedrückend wie die seine kläglich vor. Ich verabschiedete mich von ihm. Als ich über den Korridor schritt, stand Aurora neben der Treppe. Sie winkte mir, ihr zu folgen. Ich trat in ein kleines, boudoirähnliches Gemach. Aurora blickte mich forschend an. Etwas Trauriges, aber nicht bloß Trauriges, sondern auch Wildes, eine Art von Außersichsein in ihren Zügen brachte mich vollkommen um den Verstand. Plötzlich umschlangen mich ihre Arme, und ich fühlte ihre Lippen auf den meinen. »Geh, geh«, stieß sie dann durch die verpreßten Zähne hervor. Ich ging.
Mir brannte Hirn und Herz. Nie mehr über diese Schwelle, rief es in mir. Ich scheute mich, den Menschen in die Augen zu blicken. Und doch war ich glücklich; ich hatte ihre Schultern gespürt, ihre Arme, ihren Mund. Ich begab mich nach Hause, lief wie toll in meinem Zimmer auf und ab, ging wieder fort und stand in der Nacht, ich weiß nicht wie lange, vor der Villa des Majors, zu den schwarzen Fenstern emporstarrend. Die Stunden bis zum andern Nachmittag schlichen qualvoll hin. Als ich zu Aurora kam, waren Gäste da. Sie scherzte und plauderte wie gewöhnlich. Dies war mir unbegreiflich. Erst um sechs Uhr waren wir allein. Mit rauher Stimme bat ich sie um Aufklärung. Ich sagte, daß ich den Zustand des Zweifels und der schlimmen Befürchtungen nicht mehr ertragen könne.
»Was wollen Sie von mir?« entgegnete sie hart. Ich blickte sie erstaunt an, aber sie senkte nicht die Augen und flammte mich drohend an. Da packte ich ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Sie ließ mich ruhig gewähren, indes sie den Kopf in die andere Hand stützte. »Wenn ich alles sagen wollte, wer könnte mir glauben«, murmelte sie vor sich hin, und ihr Körper schrumpfte zusammen wie unter der Gewalt eines physischen Schmerzes. »Gehen wir ein wenig ins Freie«, schlug sie vor. Wir gingen in den Garten. Dort erzählte sie mir alles; während wir über die dunklen Wege schritten, schilderte sie mir ihre Ehe. Sie schilderte mir diese Ehe als ein Martyrium, das ohne Beispiel war. Sie schilderte den Major als einen argwöhnischen, neidischen, boshaften, ohnmächtigen, lügenhaften, und gewalttätigen Greis. Sie sagte mir, daß er sie schlüge. (O Gott, der Speichel im Munde wurde mir bitter wie Galle.) An ihr räche er die Unbill und Zurücksetzung, die er überall zu erleiden wähne. Wo er ihre Wünsche erfülle, sei es zum Schein; wenn er sich freundlich stelle, sei es zum Schein. Er behandle sie schlimmer als einen Hund. Seit sechzehn Monaten lebe sie wie in einem Starrkrampf, und was sie lache und rede, wisse sie nicht. Zuerst habe sie geschwiegen aus Furcht vor ihm, dann aus Furcht vor der Welt, denn noch einmal als geschiedene Frau bodenlos und heimatlos dastehn, das zu ertragen, sei sie nicht fähig, lieber wähle sie den langsamen Tod aus Kummer, Zorn und Angst.
Ich glaubte. Man denke nach, ob es für mich eine andere Möglichkeit gab, als zu glauben. Es gibt im Ungeheuerlichen einen Punkt, wo der Zweifel erstickt, anstatt genährt wird. Man kann der Raserei mißtrauen, man kann der Wut oder dem Haß mißtrauen, aber der sanften, schwermütigen und verzweifelten Ruhe, mit der mich Aurora zum Mitwisser ihres Geheimnisses machte, ist schwer zu mißtrauen. Ich wußte zu wenig von Leidenschaft, zu wenig von dieser schrecklichen Narkose des Gemüts. Die Gewohnheit kalter Sinnenlust und bezahlter Vergnügungen hatte mich einem Sträfling ähnlich gemacht, der die Kette nicht mehr spürt, aber vor Freude verrückt wird, wenn man ihm die Freiheit schenkt.
Wie hätte ich ahnen sollen, was in diesem Weibergehirn vor sich ging? ahnen sollen, daß Neugier sie zur Verderberin und Verbrecherin machen konnte? Neugier, wie weit sie mich zu treiben imstande war! Sie glaubte nicht an Männer, sie glaubte nicht an mich. Daß ich in der Schlacht gewesen, daß ich Feindesblut und eigenes Blut vergossen hatte, das verlockte sie, und sie wollte mich erproben. Sie wollte ihre Macht an mir erproben. Sie hatte die unbestimmte Sehnsucht, Urheberin einer Tat zu werden, aber sie glaubte nicht an diese Tat, so wenig wie sie an Worte, Schwüre, Vorsätze und Empfindungen glaubte. Die unergründliche, unermeßliche Leere ihrer Brust verzerrte ihr alles ernste Bestreben, Wissen, Wollen, Denken und Vollbringen zu spottwürdigen Schemen. Und so wurde meine Ergebenheit zu einem Piedestal für ihren lasterhaften Willen, und es war eine unheimliche Begierde in ihr, mich zu entfalten, mich gleichsam auseinanderzureißen, um zu sehen, – was in mir drinnen sei. Dieses und sonst nichts.
Das weiß ich jetzt; ich habe es erfahren müssen in einer Stunde, die mich aus dem Himmel in die Hölle stürzte, einer Stunde, wie sie vielleicht nur wenige Menschen je erlebt haben, und die ich auch um keinen Preis noch einmal erleben möchte. Aber wie hätte ich es damals spüren oder nur denken sollen? frage ich. Vor mir stand eine Frau, jung und unvergleichlich schön, den Sammet rührender Duldung in den Augen, und so hingeschmolzen vor meinem Wort und schlechten Trost, daß ein Tier weich geworden wäre. Kann man das noch Verstellung oder Heuchelei nennen? Ist dies nicht vielmehr eine böse zauberische Kraft, für die es noch keinen Namen gibt?
Ich will es nicht versuchen, meinen jammervollen Zustand zu schildern. Ich wandelte herum wie ein Vergifteter, auch schmeckte mir kein Bissen mehr. Daß ich liebte, war kein Glück mehr für mich, daß ich geliebt wurde, spürte ich nur wie im Traum. Wie ich es fertigbrachte, mich täglich anzukleiden, zu waschen, zu frühstücken und den Obliegenheiten meines Berufs zu genügen, ist mir heute noch ein Rätsel. Offenbar gibt es irgendeine Maschine in unserm Innern, welche die alltäglichen Pflichten gewohnheitsmäßig erfüllt. Eines Tages war ich bei meiner Mutter zu Tisch, und da ich alle Speisen unberührt ließ, stellte sie mich plötzlich in ernstem Ton zur Rede. Sie sagte, sie wisse alles; sie beschwor mich, von Aurora zu lassen und nannte sie eine gefährliche Kokette. Ich packte ihre Hände, wie man die Fäuste eines Gegners packt, der zum Schlag ausholt. »Auch du,« rief ich, außer mir vor Wut und Enttäuschung, »auch du gehst zu den Verleumdern. Du weißt ja nichts von ihr. Ach, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest, es soll sich mir nur einer stellen! nur einmal Aug’ in Auge! Mich dürstet ja danach, sie vor die Pistole zu bekommen, die feigen Hunde!« Meine Mutter war erschrocken, sie umarmte mich schluchzend und sagte: »Daß du den Appetit verloren hast, mein Junge, ist für mich das beste Zeichen, daß deine Leidenschaft verderblich und unnatürlich ist.«
So zeigt sich einem jeden die Welt anders; dem einen von der Herzensseite, dem andern von der Magenseite. Aber meine Mutter hatte Recht. Dennoch vermied ich es in der Folge, sie zu besuchen, und vom November bis zum Februar sah ich sie nur zweimal. Auch mit andern Menschen sprach ich nicht mehr als das Notdürftigste; ich gab jeden Verkehr auf und stellte Aurora meine freie Zeit völlig zur Verfügung. Nachdem ich mich lange in einem Zustand der Zerschmetterung befunden hatte,