Ehstnische Märchen. Friedrich Reinhold Kreutzwald
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Am folgenden Morgen wurde Scharfauge mit dem prächtigen königlichen Anzuge bekleidet und ausgeschickt, um das dritte Probestück auszuführen. Nicht minder stolz und anmuthig wie die beiden andern Brüder trat er vor den König, und bat um die Erlaubniß, das letzte Probestück zu unternehmen. Der König sagte: »Ich freue mich sehr, daß es euch möglich gewesen ist zwei Arbeiten zu vollbringen, welche bis auf den heutigen Tag noch Keiner ausführen konnte, so viel ihrer auch von allen Seiten zusammenströmten, um den Versuch zu machen. Dennoch fürchte ich, daß ihr die dritte Arbeit nicht zu Stande bringen werdet, denn das Ziel, welches ihr treffen müßt, steht sehr hoch und ist ein kleiner Körper.« Scharfauge erwiederte: »Wer euer Schwiegersohn werden will, der darf nichts für schwer achten, denn so großes Glück fällt Niemanden im Schlafe zu.« Darauf gab der König die Erlaubniß, am folgenden Morgen das Probestück zu unternehmen. Aber des Königs Tochter, welche wiederum durch die Thürspalte nach dem Jüngling gespäht hatte, seufzte mit Thränen in den Augen: »Könnte ich etwas für diesen Jüngling thun, daß er morgen zum dritten Male Sieger bliebe, ich gäbe Hab' und Gut dafür —um ihn zum Gemahl zu erhalten.«
War schon das erste und zweite Mal eine große Menge Volks von allen Seiten herbei gekommen, um die Wunderwerke zu sehen, so waren heute die Tausende gar nicht mehr zu zählen. Auf dem Gipfel eines Berges stand der Apfelträger, der in solcher Höhe nicht viel größer aussah als eine Krähe, und ihm sollte Scharfauge den Apfel vom Munde weg schießen, so daß der Pfeil ihn in der Mitte spaltete. Niemand hielt die Sache für möglich. Gleichwohl fürchtete der Mann oben, der den Apfel am Stiele im Munde zu halten hatte, der Schütze könnte doch vielleicht in's Ziel treffen, darum beschloß er in seinem mißgünstigen Sinne, dem Schützen die an sich schwere Aufgabe noch schwerer zu machen. Er faßte nicht, wie vorgeschrieben war, den Apfel mit den Zähnen am Stiele, sondern steckte den halben Apfel in den Mund und dachte: je kleiner ich den Gegenstand mache, auf den er zielen muß, desto weniger kann er sehen und treffen. Aber für Scharfauge war der halbe Apfel nicht minder deutlich als der ganze. Er zielte einige Augenblicke mit seinem durchdringenden Blicke, schnellte den Pfeil vom Bogen und o Wunder! der Apfel war mitten durchgespalten, so daß beide Hälften genau gleiche Größe hatten. Der neidische Apfelhüter hatte zugleich den verdienten Lohn für seine Bosheit erhalten, denn da Scharfauge gerade auf die Mitte des Apfels gezielt hatte, der Mann aber dessen größere Hälfte im Munde hielt, so hatte der Pfeil von beiden Seiten des Mundes ein Stück Fleisch mit weggerissen. Als der entzwei geschossene Apfel dem Könige zum Beweise überreicht wurde, brach die Menge in ein Freudengeschrei aus. Ein solches Wunder hatte sich noch nicht begeben. Des Königs Tochter vergoß Freudenthränen, da ihres Herzens Wunsch in Erfüllung gegangen war; der König aber lud Scharfauge ein, zu ihm zu kommen, damit er ihn sofort seiner Tochter verloben könne. Scharfauge lehnte es ehrfurchtsvoll ab mit den Worten: »Vergönnt mir, den heutigen Tag mich nach der Arbeit zu erholen! morgen wollen wir uns der Freude ergeben!« Er wollte sich nämlich keines Fehls gegen seine Brüder schuldig machen, welche gleich ihm ihren Theil der Arbeit gethan hätten: das Loos mußte entscheiden, welchem von ihnen der Lohn zufallen sollte.
Als Scharfauge zu seinen Brüdern kam, erzählte er ihnen den Hergang, und sie freuten sich erst noch mit einander wie die Kinder, ehe sie das Loos warfen. Nach Gottes Fügung brachte das Loos dem Scharfauge Glück; er sollte nun des Königs Schwiegersohn werden. Noch einmal schliefen die Brüder beisammen, dann schlug die bittere Trennungsstuude, Scharfauge begab sich in die Königsstadt, Schnellfuß und Flinkhand machten sich in die Heimath zu ihren Eltern auf.
Nach ihrer Rückkehr kauften die beiden reichen Brüder sich viele Güter und Ländereien, so daß ihr Gebiet bald einem kleinen Königreiche glich. Scharfauge hatte Alles seinen Eltern und Brüdern geschenkt, da er, als Schwiegersohn des Königs, seines eigenen Vermögens nicht mehr bedurfte. Die Eltern freuten sich über das Glück ihrer Kinder, nur war der Mutter das Herz oft schwer, weil ihr dritter Sohn so weit von ihnen in der Fremde lebte, daß sie nicht hoffen durfte ihn wieder zu sehen. Als aber die Eltern später gestorben waren, da hatten Schnellfuß und Flinkhand keine Ruhe mehr in der Heimath, sie verpachteten ihre Besitzungen und streiften wieder in fremden Landen umher, um neue Reichthümer und Schätze durch ihre Gaben zu erwerben. Wie weit ihre Wanderung reichte, was für Thaten sie auf derselben verrichteten und ob sie später wieder in die Heimath zurückkehrten, darüber kann ich euch nichts weiter melden. Aber Scharfauge's Geschlecht muß noch heutiges Tages in dem Lande wohnen, wo der Stammvater einst das Glück hatte, Schwiegersohn des Königs zu werden.
4. Der Tontlawald.
Zu alten Zeiten stand in Allentacken[19] ein schöner Hain, der Tontlawald hieß, den aber kein Mensch zu betreten wagte. Dreistere, die zufällig einmal näher gekommen waren und gespäht hatten, erzählten, sie hätten unter dichten Bäumen ein verfallenes Haus gesehen und um dasselbe herum menschenähnliche Wesen, von denen der Rasen wie von einem Ameisenhaufen wimmelte. Die Geschöpfe hätten rußig und zerlumpt ausgesehen wie die Zigeuner, und es wären namentlich viel alte Weiber und halbnackte Kinder darunter gewesen. Als einst ein Bauer, der in finsterer Nacht von einem Schmause nach Hause ging, etwas tiefer in den Tontlawald hineingerathen war, hatte er seltsame Dinge gesehen. Um ein helles Feuer war eine Unzahl Weiber und Kinder versammelt, einige saßen am Boden, die andern tanzten auf dem Plan. Ein altes Weib hatte einen breiten eisernen Schöpflöffel in der Hand, mit welchem sie von Zeit zu Zeit die glühende Asche über den Rasen hinstreute, worauf die Kinder mit Geschrei in die Luft hinauf fuhren und wie Nachteulen um den aufsteigenden Rauch flatterten, bis sie zuletzt wieder herabkamen. Dann trat aus dem Walde ein kleiner alter langbärtiger Mann, der auf dem Rücken einen Sack trug, der länger war als er selbst. Weiber und Kinder liefen dem Männlein lärmend entgegen, tanzten um ihn herum und suchten ihm den Sack vom Rücken zu reißen, aber der Alte machte sich von ihnen los. Jetzt sprang eine schwarze Katze, so groß wie ein Fohlen, die mit glühenden Augen auf der Thürschwelle gesessen, auf des Alten Sack und verschwand dann in der Hütte. Weil aber dem Zuschauer schon der Kopf brannte und es ihm vor den Augen flimmerte, so blieb auch seine Erzählung unsicher, und man konnte nicht recht dahinter kommen, was daran wahr und was falsch sei. Auffallend war es, daß von Geschlecht zu Geschlecht solche Dinge vom Tontlawalde erzählt wurden; aber Niemand wußte genauere Auskunft zu geben. Der Schwedenkönig hatte mehr als einmal befohlen, den gefürchteten Wald zu fällen, aber die Leute wagten es nicht den Befehl zu vollziehen. Einmal hieb ein dreister Mann mit einer Axt in einige Bäume, da floß sogleich Blut und man hörte Jammergeschrei wie von gequälten Menschen.[20] Der erschreckte Holzfäller nahm zitternd und bebend die Flucht; seitdem war kein noch so strenger Befehl, kein noch so reichlicher Lohn im Stande, wieder einen Holzfäller in den Tontlawald zu locken. —Sehr wunderbar erschien es auch, daß weder ein Weg aus dem Walde heraus noch einer hinein führte; auch sah man das ganze Jahr durch keinen Rauch aufsteigen, der das Dasein menschlicher Wohnstätten verrathen hätte. Groß war der Wald nicht, und rings um ihn her war flaches Feld, so daß man freien Ausblick auf den Wald hatte. Hausten wirklich hier von Alters her lebende Wesen, so konnten sie doch nicht anders in dem Walde ein- und ausgehen als auf unterirdischen Schlupfwegen, oder sie mußten auch wie die Hexen bei nächtlicher Weile, wo Alles ringsum schlief, durch die Luft fahren. Das Letztere ist, dem Erzählten zufolge, das Wahrscheinlichere. Vielleicht erhalten wir über diese Wundervögel mehr Auskunft, wenn wir den Wagen der Erzählung etwas weiterlenken und im nächsten Dorfe ausruhen.
Einige Werst vom Tontlawalde lag ein großes Dorf. Ein verwittweter Bauer hatte unlängst wieder ein junges Weib genommen und, wie das wohl oft vorkommt, ein rechtes Schüreisen in's Haus gebracht, so daß Verdruß und Zank kein Ende nahmen. Das von der ersten Frau nachgebliebene siebenjährige Mädchen, mit Namen Else, war ein kluges sinniges Geschöpf. Dieser Armen machte aber die böse Stiefmutter das Leben ärger als die Hölle, sie puffte und knuffte