Vom Fuchs zum Wolf. Sascha Michael Campi

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Vom Fuchs zum Wolf - Sascha Michael Campi

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Ich entschloss mich dorthin zu fahren. Die Distanz bis zum Spielsalon betrug um die dreihundert Meter. Ich startete meinen Chrysler M 300 und fuhr los. Ich entschied mich kurz in verbotener Weise auf der Busspur zu fahren und dann in der Querstrasse rechts, rückwärts hinein zu fahren, um dort zu parkieren. Gesetzlich nicht korrekt, doch von so manchem gemacht. Wer die Zürcher Strassenlabyrinths kennt, versteht es wahrscheinlich am besten. Dummerweise rechnete ich nicht damit, dass die Querstrasse versperrt war und somit konnte ich meinen Plan vergessen, worauf ich mich kurzfristig entschloss, nach Hause, also in den Kanton Solothurn zu fahren. Da ich mich schon auf der Busspur befand, wo mir auch kein Auto entgegenkommen konnte, entschied ich mich, die Strasse ganz hoch zu fahren, um dann rechts in die Badenerstrasse einzubiegen. Während dem Fahren begann ich nach meinem Handy zu suchen. Mein Drang zu Reden war gross. Ich wollte telefonieren, sei es mit meiner Familie oder mit meinem Kumpel Bajram. Hauptsache mit jemandem reden. Ich griff auf den Beifahrersitz nach dem Handy. Es schien vom Sitz gefallen zu sein. Ich begann nach dem Handy zu tasten. Ich blickte kurz neben den Beifahrersitz, sah das Handy und begann danach zu greifen.

      Dann … schwarz …

      Ich wachte auf und erblickte eine defekte Frontscheibe, mein Gesicht schmerzte, ein Piepsgeräusch dröhnte in meinem Ohr und ich hörte viele Stimmen.

       «Herr Campi, der Notfallpsychiater ist hier.»

      Meine Erinnerung wurde gestoppt und ich erhob mich aus dem Kasernenbett.

       «Ja, ich komme.»

      Ein kurzer Blick auf die Uhr. Es war bereits kurz vor Mitternacht. Ich begab mich zum Notfallpsychiater, dessen Besuch ich mir auch gerne hätte sparen können, denn das Interesse der Helfer war minim. Nach einer Stunde war ich zurück in der Kasernenzelle und noch wacher als zuvor. Die Fragen; wie geht es den Verletzten, wie geht es der Familie des Verstorbenen, wie geht es meiner Familie, kreisten wie wild in meinem Kopf. Ich musste mich dringend ablenken und versuchte in Gedanken zu schweben. Wie bin ich überhaupt ins Milieu gekommen, wie bin ich in diese Welt eingetaucht? Ich versuchte mich abzulenken, mich zu beruhigen, indem ich über meine Kindheit und über meine Anfänge im Milieu nachdachte …

       Meine Kindheit

      Geboren bin ich am 26. Juni 1986 in der Stadt Aarau, mein Heimatort ist der Kanton Bern und in meinen Adern fliesst Schweizer- und Italiener-Blut. Aufgewachsen bin ich in Schönenwerd, einem kleinen, modernen Dorf im Kanton Solothurn, direkt an der aargauischen Grenze. Schönenwerd verfügt über eine grosse Geschichte und war vor Jahrzehnten durch die Schuhproduktion der Firma Bally noch weltbekannt. Heute ist davon nicht mehr viel zu spüren. Was jedoch geblieben ist, ist ein wunderschöner Park, der von Herr Bally damals für seine Mitarbeiter zur Pausenbeschäftigung erbaut wurde. Heute dient der Park sowohl den Touristen, wie für Hochzeitsgesellschaften oder als optimale Kulisse für Foto-Shootings, sowie den Familien und Sporttreibenden für ihre Freizeitbeschäftigungen. Ich lebte bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr im Haus meiner Eltern am Rande des Dorfes, nicht unweit vom Bally Park entfernt.

      Die Kindheitstage sind bekanntlich die Jahre der Prägung. Unser Umfeld und unsere Erlebnisse haben zu keinem anderen Zeitpunkt in unserem Leben einen so starken Einfluss mit prägender Langzeitwirkung wie in diesem Lebensabschnitt. Wir kopieren aus unserem Umfeld, besonders aus dem engsten, der Familie, verschiedenste Verhaltensweisen. Weitere entwickeln wir selbst, insbesondere dann, wenn sie sich als besonders wirkungsvoll herausgestellt haben. Wir wiederholen also quasi das Verhalten, das sich für ein Problem bewährt hat, immer wieder dann, wenn dasselbe Problem auftaucht. Mit der Zeit zeigen sich solche Verhaltensmuster immer mehr und immer mehr werden sie zu einem Teil von uns, einem Teil, der uns gegenüber von Mitmenschen je nach deren Manifestationen im Positiven aber auch mal negativ erscheinen lässt. Es sind die Ecken und Kanten anhand deren wir uns nebst optischen Merkmalen unterscheiden. Resümiere ich heute mit einunddreissig Jahren mein Leben, so kann ich viele solche Manifestationspunkte erkennen. Ich weiss heute, weshalb ich auf aktuelle Probleme reagiere, wie ich reagiere oder wieso ich in der Vergangenheit falsch reagiert habe. Wahrscheinlich gelingt mir diese Erkenntnis bedingt durch eine gewisse Reife, aber auch dadurch, dass ich mich vermehrt mit fachmännischer Literatur befasste, welche mir diesen Prozess erstmals in meinem Leben ermöglicht hat. Meine Kindheit war im Bereich der Familie eine Herausforderung, resultierend aus zwei differenzierten Erwartungen, gehegt von zwei verschiedenen familiären Parteien. Meine Tante und Grossmutter bestanden auf Regeln. Für sie musste alles organisiert sein. Ihr Leben bestand darin sich nach gesellschaftlicher Wertung als etwas Besseres darzustellen, als sie es in Wahrheit waren. Aus der nächsten Generation sollte dann auch etwas Besseres werden. Für sie waren das Ansehen, der Erfolg und finanzielle Aspekte die anzustrebenden Ziele im Leben. Meine Eltern waren hingegen Freigeister. Für sie zählte weder teure Kleidung, luxuriöse Gegenstände, noch berufliche Erfolge. Mein Vater, ein ehemaliges Mitglied und Fan der früheren Halbstarken Szene, und meine Mutter, die Tochter einer engstirnigen und nicht immer einfachen Mutter, kehrten solchen Werten den Rücken. Für sie zählte Freiheit, die Freude am Kleinen und der Zusammenhalt. Daher mag auch nicht erstaunen, dass sie sich bei der Erziehung zu einer Art der freien Entwicklung entschieden haben. Meine Eltern setzten mir so gut wie keine Grenzen, liessen mich immer wieder gegen Mauern prallen, damit ich daraus etwas lernen solle. Eine Erziehungsmethode, die sicher gerade in der heutigen Zeit umstrittener ist denn je. Das Positive einer solchen freien Entwicklung ist, dass man lernt aus Fehlern zu lernen, indem man die Lösungen selbst kreiert und zugleich weiss, wie sich die Konsequenzen anfühlen, wenn das kreierte Verhaltensmuster nicht eingehalten wird. Jedes Mal, wenn man gegen eine Mauer prallt, jedes Mal, wenn einem dadurch der Kopf brummt, überlegt man sich, was man ändern kann, um eine weitere Kollision mit dem steinigen Ungetüm zu verhindern. Das Negative an dieser Erziehungsmethode ist, dass man immer erst lernt, wenn man den Kopf angestossen hat. Sprich, es muss immer zuerst etwas geschehen, bevor die präventive Überlegung in Gang gesetzt wird. Da meine Eltern selbst eine strenge und von vielen Regeln beengte Kindheit erlebten, war es ihnen ein prioritäres Anliegen, ihrem Kind nicht dasselbe zu bescheren, da ihnen die Erziehungsmethoden ihrer eigenen Eltern subjektiv als falsch erschienen. Ich hingegen, der lange diese freie Entwicklung genoss, sehnte mich, je älter ich wurde, immer mehr nach klaren Regeln, nach klaren Grenzen. Quasi nach einem Rahmen für den Alltag. Sodass ich des Öfteren meine Grenzen zu erkunden versuchte, auch in Bezug auf Alkohol und Party. Die subjektiven Ansichten zwischen meinen Eltern und mir sind dadurch bis heute sehr konträr. Ein altbekanntes, triviales Sprichwort trifft nicht nur die Problematik haargenau, nein, es entzaubert diese Kontroverse, die mich jahrelang beschäftigte, mit simplen Worten: «Was der Mensch hat, will er nicht und was der Mensch nicht hat, will er.» Aus diesem einfachen Satz lässt sich ebenso schliessen, dass keine der beiden Erziehungsarten, sei es die der freien oder der eng geregelten, falsch oder richtig ist. Oft ist es daher so, dass die Erziehungsmethoden sich von Generation zu Generation in der Familie abwechseln. Für mich als Einzelkind war die freie Entwicklung unbestritten, besonders in den jungen Jahren, eine sehr willkommene Erziehungsform. Doch gerade während der Adoleszenz, in den Teenagerjahren, geriet ich dadurch das erste Mal in Schwierigkeiten. Als ich in der Oberstufe die Begegnung mit strikten Regeln machte und ihren strengen, kompromisslosen Verfechtern. Besonders der damalige Direktor meiner Schule veränderte einiges bei mir. Seine militärische Art, seine Arroganz gekoppelt mit seiner Liebe zu Erniedrigungen hinterliess bei mir nicht nur seelische Narben, sondern liess mich in mir einen inneren Schutzpanzer erstellen, ausgestattet mit einer Gegenwehrfunktion, welche ohne zu zögern das Gegenfeuer in Gang setzt. Der Schuldirektor, ein ehemaliges Militäroberhaupt, legte besonders grossen Wert auf die sportliche Leistung seiner Schüler. Da kam ich ihm als dickliche Junge gerade Recht, um zu demonstrieren, was dick sein für Nachteile mit sich bringt. Nebst dem Präsentierwert den ich für ihn hatte, war ich seine Voodoo Puppe, das Objekt, in das er seine Nadeln hineinstechen konnte, um seine sadistischen Vorlieben auszuleben. Nebst seiner Direktorposition leitete er den Sportunterricht. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie er mich das erste Mal demütigte. Das erste Spiel klang harmlos, sogar für einen dicklichen Jungen wie mich

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