Vom Fuchs zum Wolf. Sascha Michael Campi

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Vom Fuchs zum Wolf - Sascha Michael Campi

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der andere griff seine Beine und hob sie hoch. Der Erste musste nun mit seinen Händen laufen. Einmal die Turnhalle hoch und dann wieder runter. Es machte allen Spass. Es gelang allen spielend. Allen? Nein, ein dicklicher Junge schaffte es nicht. Nach zwei Schritten mit den Händen prallte sein Gesicht gegen den Boden. Beim zweiten Versuch ebenfalls. Der dickliche Junge stand auf, wollte abbrechen, da geriet er in den Fokus des ehemaligen Kommandanten. Ich bedauerte, es nicht zu schaffen, was den Direktor nicht interessierte, nur erboste. Er liess die rund fünfundzwanzig anderen Jungs in einer Reihe aufstehen und bestand darauf, dass alle mir zusahen, bis ich die Turnhalle hoch und wieder runter auf den Händen gelaufen war. Zweiundfünfzig Augen waren auf mich gerichtet, meine eigenen den Tränen nahe. Der nächste Versuch startete. Mein Kopf prallte immer nach zwei Schritten auf den Boden. Ich erhob mich immer und immer wieder. Immer und immer wieder prallte mein Kopf gegen den Boden. Unzählige Hämmer musste ich einstecken bis ich die Strecke hin und zurück geschafft hatte. Fünfundzwanzig Münder lachten, mit der Zeit verstummten sie, wohl, weil sie nicht über die sadistische Ader des Direktors verfügten. Sein Mund schrie. Schrie und fluchte. Ein anderes Beispiel war, als ich an einem Tag meine Hallenschuhe zu Hause vergessen hatte. Der Direktor sprach gerade mit einem seiner Lehrerkollegen, als ich mich vor ihn stellte. Mit leiser, ängstlicher Stimme gestand ich ihm das Fehlen der Schuhe. Seine Reaktion vor dem Lehrer war erstaunlich. Denn er zeigte Verständnis, meinte sogar, dass es nichts mache, er lächelte sogar. Erleichtert lief ich in den Socken zu meinen Mitschülern. Der Lehrerkollege des Direktors verschwand. Mit ihm das Lächeln des Direktors. Dieser nahm seine Sportpfeife hervor. Ein Pfiff ertönte und wir mussten uns alle vor ihm aufstellen. Die Rede war von einem neuen Spiel, welches ihm angeblich spontan eingefallen sei. Er wies uns an, die zwei Plastikwagen gefüllt mit Tennisbällen aus dem Turnhallenlager zu holen. Wir gehorchten. Das neue Spiel wurde erklärt. Es sei eine abgeänderte Art von Brennball. Während man beim normalen Spiel, eigentlich mit einem grossen Softball spielte, und mit diesem den Körper des anderen treffen sollte, bestand die neue Version aus mehreren Bällen. Aus kleinen und harten. In dieser Version galt es, nicht den Körper zu treffen, sondern nur die Füsse. Alle die Schuhe dabei hätten, müssten sich nicht sorgen, spottete der Kommandant zynisch. Sein Blick fokussierte mich bei seiner Erklärung. Sein Hass galt mir, er galt dem dicklichen Kind, welches für ihn eine Schande war, dass dazu noch zu dumm war, heute seine Schuhe mitzunehmen. Ein Pfiff erklang. Fünfzig Hände griffen nach Tennisbällen. Hunderte von Bälle feuerten durch die Halle. Hunderte gegen die einen Füsse. Die Füsse ohne Schuhe. Nach kurzen Fluchtversuchen, nach unzähligen Ausweichversuchen musste ich aufgeben. Ich liess die Lawine über mich ergehen. Meine Füsse schmerzten. Sie schmerzten sehr. Noch mehr schmerzte das zynische Lächeln des Direktors, dessen sadistische Gelüste einmal mehr gestillt wurden. Nach einer dieser Geschichten schalteten sich eines Tages meine Eltern ein. Mein Vater nahm telefonischen Kontakt mit dem Direktor auf. Diesem gelang es jedoch sich als fürsorglich darzustellen. Es sei alles nur zu meinem Besten. Sein Ziel, mich zum Sport zu treiben, könne für mich einmal lebensrettend sein. Würde ich einmal von einer Leiter zu fallen drohen, könnte ich mich nur mit gestärktem Körper festhalten. Ansonsten würde ich ja fallen. Und zudem sei Sport zu treiben wichtig für den späteren Militärdienst. Diese absurden Beispiele schienen meinen Eltern einzuleuchten, sodass für sie das Thema vom Tisch war und ich mich über weitere Peinigungen nicht mehr beschwerte und in Schweigen ausharrte. Doch für mich war eines klar. Hilfe gibt es keine und so kommt nur die Flucht in Frage. Die Klasse oder Schule zu wechseln. Obschon ich die Bezirksschule problemlos hätte absolvieren können, so auch die Chance auf meinen Traumjob als Anwalt hätte aufrechterhalten können, liess ich meine Noten herunterfallen. Ich bestand vehement auf eine Herunterstufung in die Sekundarschule, wo ich nicht nur vom Direktor verschont wurde, da er dort den Turnunterricht nicht unter sich hatte, wo ich auch wieder mit meinen ausländischen Freunden vereint sein konnte. Mein damaliger Weg war gezwungenermassen das Aufgeben. Zum Kämpfen fehlte mir der Mut, die Kraft und die Willensstärke. Doch genau diese Flucht war ein prägendes Ereignis in meinem Leben. Denn sie nagte an mir, immer und immer wieder. Ob ich mal gegen einen Boxsack schlage oder Kraft schöpfen muss. Der Gedanke an die damalige Flucht nagt und hilft mir zugleich. Denke ich bloss an sie, so kann schnell Wut das Resultat sein. Wut über den sadistischen Direktor, aber auch Wut über das eigene Versagen, über die Flucht. Benötige ich Ansporn, muss ich meinen Willen im Sport oder in einem Disput stärken, so dient mir der Gedanke an diese Zeit als Energiespender. Im Laufe der Zeit, im Laufe des Erwachsenwerdens habe ich mir einen Schutzpanzer zugelegt, um mich niemals mehr in eine so demütigende und erniedrigende Lage zu begeben. Besonders aktiviert wurde dieser Schutzpanzer Jahre später in meiner Zeit in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies. In keiner Lebenslage zuvor kam ich so nahe an den Zustand meiner damaligen Schulzeit. Während meiner Zeit in der Pöschwies kam ungewollt immer wieder etwas aus der Zeit der Erniedrigung, der Peinigung hervor. Der Direktor der JVA wandelte sich immer mehr zu meinem ehemaligen Schuldirektor.

      Daher mag es auch nicht erstaunen, dass man mir eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert hat. Dr. Elmar Habermeyer beschreibt dazu: Bei narzisstischen Persönlichkeiten kann es somit sein, dass sich schwerwiegende Probleme erst manifestieren wenn ihre, in gewisser Weise als Schutzschild dienende, Arroganz und Selbstsicherheit in Frage gestellt wird und ein Gesichtsverlust droht … Letztlich können dann aus einer Kränkung Wut- und Rachegefühle resultieren, welche eine Abwertung des Gegenübers bei gleichzeitiger Erhöhung der eigenen Position nach sich ziehen.

      Nach der Flucht in die Sekundarschule lernte ich eine weitere Lektion. Den Direktor war ich zwar los, aber der Teil meiner Familie, der gerne in der Gesellschaft besser dastehen wollte, war und blieb ja ein Teil meines Lebens. Holte mich meine Grossmutter für einen Ausflug ab, so wurde ich gemustert. Hatte ich zu enge Kleidung getragen, in der man Bauchspeck erkennen konnte, bestand sie darauf, dass ich mich umziehen gehe. Sie würde nicht mit einem dicken Enkel in die Öffentlichkeit gehen. Wohlbemerkt war ich von dick ein rechtes Stück entfernt. Adipös wäre wohl die passende Beschreibung gewesen. Ich erkannte also, dass ich zwar den sadistischen Direktor losgeworden bin, aber mein Körper scheinbar selbst den Ansprüchen gewisser Familienmitglieder nicht genügte. Während meine Eltern priesen, dass es egal sei wie man aussieht, wurde ich vom anderen Teil der Familie vor dem Eintreten in die Öffentlichkeit geprüft. Die Spuren dieser Zeit sind für mich auch heute noch erkennbar. Nehme ich nur zwei Kilos zu, oder spricht mich gar jemand darauf an, verfalle ich in einen massiven Drang zum Gewichtsverlust, zur Korrektur. Es erklärt sicher auch meine oft so übertriebene Eitelkeit, meine Vorliebe zu auffälliger und eleganter Kleidung.

      Im Grossen und Ganzen waren meine Jugendjahre trotz allem schön und mehrheitlich unkompliziert, meine Eltern schenkten mir Liebe und dazu besass ich oft mehr als ich eigentlich gebraucht hätte. Meine Eltern haben bis heute täglich hart gearbeitet, damit es der Familie an nichts fehlt. Meine Mutter, ehemals als gelernte Verkäuferin im Globus tätig, hat die meiste Zeit danach im Reinigungsdienst gearbeitet und mein Vater arbeitet seit rund zwanzig Jahren als Verkäufer für Whirlpools, mittlerweile steht seine Frühpensionierung an.

       Einstieg in die Halbwelt

      Was ich mit meinen Eltern seit jeher gemein habe, ist eine gewisse rebellische Ader, die unserer Familie im Blut liegt. Mit dem Strom schwimmen war noch nie die Art der Familie Campi. Meine Eltern sind sehr von den Achtzigern geprägt und blieben dem Lebensstil und den damaligen Werten bis heute treu. Obschon ich und meine Eltern sehr verschieden sind, so waren wir uns zumindest im Rebellischen umso ähnlicher. Bei mir zeigte sich diese Ader schon früh bei der Wahl meiner Vorbilder. Als Teenager nimmt man sich Vorbilder, denen man nacheifert, die man bewundert. Es ist eine Zeit, in der man noch weit von der Erkenntnis entfernt ist, dass jeder Mensch ein Individuum ist, das sich nur entfalten kann, wenn er sich gibt wie er ist, und sich nicht verstellt. Meine Idole in der Teenagerzeit waren der amerikanische Schauspieler Sylvester Stallone und der Schweizer Mundart Rocker Gölä. Zwei eigentlich massiv unterschiedliche Typen, einer aus der Internationalen Filmbranche und der andere aus der nationalen Musikszene, doch was beide gemein hatten, war ihre rebellische Ader. Sylvester Stallone wurden keine Chancen als Schauspieler zugesagt, da seine Teil-Gesichtslähmung ihm dies niemals erlauben würde, so seine damaligen

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