Staatsmann im Sturm. Hanspeter Born
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In der Tribune de Genève beruhigt ihr Berner Korrespondent Léon Savary seine welschen Freunde, die in der Verordnung bereits die Inquisition wittern:
Die Verfügung sieht natürlich strenge Massnahmen vor, aber sie richten sich nur gegen die Spione, die Agenten der ausländischen Propaganda, die dubiosen Emissäre, die auf neutralem Gebiet zwischen den Pflastersteinen spriessen, sobald es Krieg gibt.
Savary hat das Gefühl, die Militärs erhielten «ein wenig allzu weite Kompetenzen». Um Überwachungen durchzuführen und Untersuchungen zu leiten, seien die zivilen Behörden mit ihrer darin geübten Polizei besser geeignet. Der vermutlich von Pilet selber eingeweihte Savary verrät seinen Lesern in diesem Zusammenhang noch ein Geheimnis:
Aber es scheint, dass ein Sonderdienst geschaffen werden wird, um generell die Aufgabe der Spionageabwehr zu übernehmen, und dass ein gut bekannter und unbestritten kompetenter Fachmann sie leiten wird. Tant mieux.
Ein geheimer Bundesratsbeschluss hat sofort nach der Mobilmachung den Spionageabwehrdienst, SPAB, wie man ihn nennen wird, ins Leben gerufen und seine Führung dem mit Pilet eng befreundeten Waadtländer Polizeikommandanten, Oberst Robert Jaquillard, übertragen. Jaquillard wird seine Aufgabe in Zusammenarbeit mit den andern kantonalen Polizeichefs derart diskret erfüllen, dass ausserhalb der Waadt kaum jemand seinen Namen kennt. (Jaquillard hat bis zum heutigen Tag nicht einmal Einzug ins Historische Lexikon der Schweiz gefunden.) Jaquillard und Pilet waren früher im selben Regiment Bataillonskommandanten und duzen sich. Jaquillard wird als Chef der Gegenspionage Dinge erfahren, die auch Bundesräten verborgen bleiben. In den folgenden vier Jahren wird er es nicht unterlassen, seinen Freund Pilet regelmässig über trübe Vorgänge auf dem Laufenden zu halten – nicht zuletzt über gegen ihn persönlich gerichtete Intrigen.
Die Staatsschutzverordnung, die Professor Walther Burckhardt verfasst hat, ist jetzt in Kraft. Der Berner Ordinarius hat der Eidgenossenschaft zum x-ten Mal einen wertvollen Dienst erwiesen. Es wird sein letzter sein. Nachdem er sein Leben lang für die Völkerverständigung gekämpft hat, lässt ihn der Zusammenbruch der europäischen Friedensordnung verzweifeln. Er, der sich der deutschen Kultur verbunden fühlt, verabscheut den Nationalsozialismus und muss jetzt ohnmächtig zusehen, wie Hitler die westliche Zivilisation in den Abgrund zu stürzen droht. Seine vor ein paar Monaten verstorbene Frau fehlt ihm. Er besucht seinen Sohn, der in den Bergen Militärdienst leistet. Anfang Oktober hält Prof. Burckhardt für einen vom Tod früh aus dem Leben gerissenen begabten Studenten die einfühlsame Grabesrede.
Zwei Wochen später holt der zunehmend Vereinsamte und Verzweifelte seine Armeepistole aus der Schublade, verzieht sich in das Putzkämmerlein und gibt sich den Tod.
4. Tücken der Zensur
Am Samstag, 2. September, besprach der Bundesrat in einer dringlichen Sitzung ein vom Militärdepartement vorgelegtes Projekt zur Kontrolle «von Nachrichten und Äusserungen insbesondere durch Post, Telegraph, Telephon, Presse, Nachrichtenagenturen, Radio und Film zu überwachen». Angegebener Zweck der geplanten Massnahmen ist die «Aufrechterhaltung der Neutralität», weshalb Pilet das Ding «Neutralitätsverfügung» nennt.
Pilet hatte das Gefühl, die von der Armee gewünschte Zensurvorlage «ersticke alles», sei «une aberration». Auf seinen Antrag hin verschob der Bundesrat den Entscheid. Die Kollegen gaben ihm Zeit, ein Gegenprojekt auszuarbeiten.
Wie im Fall der Staatsschutzverordnung schlug Pilet Änderungen vor, die er wiederum Oberst Logoz übermittelte. Der juristische Berater der Armee teilte auch hier die Auffassung des Waadtländer Bundesrats, der sich notierte:
Sehr liebenswürdig verspricht er [Logoz], uns zu helfen, dem ‹militaristischen› Clan Widerstand zu leisten und sich zu meiner Verfügung zu stellen, wenn er mir nützlich sein kann.
Pilet konsultierte weitere Juristen. Zum Schluss einigte er sich mit dem Zensurbeauftragten des Armeekommandos, Oberst und Bundesrichter Hasler, auf eine neue Fassung, welcher der Bundesrat diskussionslos zustimmte. Der Bundesbeschluss über die Zensur tritt am 8. September in Kraft.
Pilet hat sich im Laufe Zeit beträchtliche staatsrechtliche Kenntniss erworben. Auch in diesem Fall ist es dem Juristen Pilet gelungen, den Text substanziell zu verbessern und die Stellung des Bundesrats gegenüber dem Armeekommando zu stärken. Die von ihm durchgesetzte Hauptänderung betrifft die Vorzensur, deren Erlass nicht mehr im freien Ermessen des Armeekommandos liegt, sondern «nur mit Ermächtigung des Bundesrats verfügt werden» kann.
Der Erlass führt ein Beschwerderecht ein. Wer sich von der Überwachungsstelle ungerecht behandelt fühlt, kann bei einer Rekurskommission Einspruch erheben. Vorsitzender ist ein Bundesrichter. Ihre Mitglieder sind geachtete Persönlichkeiten aus allen politischen Lagern. Auch zwei Sozialdemokraten sind in der Kommission: Regierungs- und Nationalrat Ernst Nobs und Prof. Max Weber, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Beide betätigen sich publizistisch und verstehen etwas vom Pressewesen. Es sind gradlinige, patriotische Politiker. Pilet kennt und schätzt sie. Nobs wird 1943 als erster Sozialdemokrat in die Landesregierung gewählt und Weber 1951 dessen Nachfolger als Bundesrat.
Die von zur Überwachung von Presse, Radio, Telegraf, Telefon, Post, Buchhandel und Film eingesetzte «Abteilung für Presse und Funkspruch» wird von Bundesrichter Oberst Eugen Hasler kommandiert. Das Departement Pilet ist für die Kontrolle von Telefongesprächen, Telegrammen, Postsendungen und Radioprogrammen zuständig. Die bestehende Überwachung von Telefonaten, Briefen und Paketen wird erweitert und verschärft. An der Praxis ändert sich wenig. Die Überwachungsarbeit liegt weiterhin bei Mitarbeitern der PTT-Verwaltung. Die Protokolle von abgelauschten Telefongesprächen gehen zum Chef der Telegrafendirektion Dr. h.c. Alois Muri. Muri leitet Kopien von Berichten, die er für brisant hält, an Pilet weiter. Oft fügt er mit Rotstift kleine, manchmal ironische Randbemerkungen hinzu.
Als Oberst Hasler Pilet schriftlich über die von der Armeeleitung verfügten neuen Zensurmassnahmen für die Briefpost und den Telegrammverkehr benachrichtigt, legt Pilet sein Veto ein. Solche Massnahmen dürften nur mit seinem, Pilets Einverständnis erlassen werden:
Aus den Gründen, die ich Ihnen mündlich genannt habe, habe ich momentan nicht die Absicht, die mir zukommenden Kompetenzen zu delegieren.
Für Telefon, Telegraf und Radio sei die Lage geregelt. Für die Post im eigentlichen Sinne will Pilet sich an die Bestimmungen des Postgesetzes von 1924 halten: «Dies soll genügen.»
Besondere Bedeutung kommt der Beaufsichtigung des Radios zu. Das Radio – das deutsche Wort «Rundfunk» ist in der Schweiz verpönt – hat einen schwindelerregenden Aufschwung erlebt. Die Zahl der Radiohörer im Inland hat sich vervierfacht – aus 150 000, die 1930 für ihre Empfangskonzession Gebühren zahlten, sind 1939 fast 600 000 geworden. 80 Prozent der Haushalte haben einen Empfänger, bei dem es sich meist um ein massives, kunstvoll gefertigtes Möbelstück handelt. Die Besitzer sind stolz auf ihren teuren Apparat. Wenn in der Deutschschweiz um 12.30 Uhr nach dem «Zeitzeichen aus Neuenburg» die Mittagsnachrichten gesendet werden, läuft in den Wohnstuben das Radio, und die Familie schweigt. Dann wird in den Wirtschaften auf den Einstellknopf gedrückt. die Die Gäste spitzen die Ohren.
Das Radiowesen untersteht der «Telegraphen- und Telephondirektion» im Departement Pilet. Als der Waadtländer Bundesrat 1930 vom Departement des Innern zu Post- und Eisenbahn wechselte,