Herr Rudi. Anna Herzig

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Herr Rudi - Anna Herzig

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und währenddessen von gedanklichem Proviant zehren.

      »Findest das lustig«, schnauft er.

      Die Livi hat sich auf seinen Rücken gesetzt und ihn zum Pferd ernannt. Das macht sie seit einigen Jahrzehnten so.

      »Ich mag Spaß«, sagt sie.

      »Du machst Spaß, meinst.«

      »Pferdchen, hü-hott.«

      »Livi, ich schwör dir …«

      »Lach doch mal ein bisschen.«

      »Ich bin ein alter Mann. Mir tut das weh.«

      »Spiel was mit mir.«

      »Ich bin müde. Geh bitte runter von mir.«

      »Du hast mich nicht mehr lieb.«

      »Wenn du so weitermachst, korrekt.«

      »Du bist böse.«

      »Und alt«, schnauft der Herr Rudi.

      »Hallo?«, fragt sie.

      »Hast dir eigentlich mal überlegt, wie das gewesen wär, wenn nicht du, sondern ich gestorben wär. Dann wäre ich jetzt dein Geist.«

      »Was ist gestorben

      »Wenn der Körper sagt: Ich mag nicht mehr.«

      Nun muss er doch ein bisschen weinen, wie sie da so auf ihm sitzt. Geister auf den Schultern zu tragen, kann die seltsamsten Schmerzen herbeiführen.

      HEUTE, AN SEINEM GEBURTSTAG, fühlt er sich dem Leben im Allgemeinen näher. Den Dingen, die schön sind, und den Dingen, die wehtun. Wehtut: der Hexenschuss. Der Nebel. Die Diagnose vom Arzt.

      Aber so dahinzusiechen, das ist dem Herrn Rudi nichts. Der Livi damals beim Sterben zuzuschauen, hat ihn in seine elementarsten Teilchen zerlegt. Der Gang weg von ihrem frischen Grab. Der elende Friedhofsgeruch wird ihm vier Jahrzehnte danach noch das rechte Nasenloch verstopfen. Er hat geglaubt, es zerreißt ihm die Organe.

      Wer gibt ihr eine Decke, was, wenn sie aufwacht und allein ist? Wenn sie Angst hat und weinen muss, weil keiner sie hört? Jemand muss doch in ihrer Nähe bleiben und sie lieb haben. Beschützen vor der Kälte und den Tierchen da unten.

      Die Eltern von der Livi hatten ihn gebeten, aufzustehen und ein paar Worte zu sagen. Der junge Herr Rudi hat nur genickt. Als er dann im Anzug vor der Trauergemeinde gestanden ist, hat er nur ins Leere geschaut, unfähig irgendetwas zu sagen. Er hat zu weinen begonnen, so laut und schmerzvoll, dass sein Vater herbeigeeilt ist und ihn unter dem Arm stützend aus der Kirche gebracht hat. Er hat sich aus dem Griff seines Vaters befreit, ist zurückgerannt in die Kirche, hat wutentbrannt jedes Blumengesteck zu Boden geworfen, das in seiner Nähe war, ist darauf herumgetrampelt und hat geschrien: »Das bringt jetzt auch nichts mehr! Versteht ihr das nicht?!«

      Im Kreis ist er gestampft und hat gebrüllt: »Sie mag keine Rosen!«

      Ist zitternd zusammengesunken und hat geschluchzt: »Warum muss sie denn jetzt allein in einer Kiste sein?«

      Stunden später ist er in sein Zimmer gekrochen, verquollene Augen und Speichelfäden ums Kinn, hat sich die riesige Tagesdecke über den Kopf gezogen und gedacht: Es gibt keinen nächsten Tag mehr. Egal, was jetzt noch passiert, die Sonne, die geht nicht wieder auf.

      Man möge sich nun das Ausmaß des Hochverrats vorstellen, als der nächste Tag sehr wohl gekommen ist.

      Der junge Herr Rudi wird in den darauffolgenden Wochen zu einem Geist werden, der nachts jaulend vor Schmerz im Elternhaus herumwandert, durch Gänge und Zimmer schleicht, alles und jeden anklagt, weil man ihn um ein ganzes Leben betrogen hat.

      Stunden um Stunden wird er schlafen, Decke über den Kopf gezogen. Einschlafen, weinen. Aufwachen, weinen. Dazwischen: Weinen. Nur das notwendigste: Atmen. Wenn er Kraft hat, die Notdurft zu verrichten, gut. Wenn nicht, dann lässt er es laufen. Alles. Er wird dieselbe Kleidung tragen, tagein tagaus, beginnen, stärker zu riechen als der Kuhstall nebenan. Sich blaue Flecken am ganzen Körper zuziehen, weil er gedankenlos gegen sämtliches Mobiliar im Haus läuft. Wieder und wieder wird er sich die Fingernägel in die Oberarme drücken und in die Schenkel, wird unentwegt versuchen, das Leid zu verlagern. Das wird wochenlang wiederholt, bis zu jenem Tag, an dem er eine Flasche Wodka trinkt. So eilig, dass ihm binnen wenigen Minuten schwarz vor Augen wird. Bewusstlosigkeit, Krankenhaus.

      »Atmen, Herr Renninger.«

      Nein, denkt der Herr Rudi.

      »Sie müssen atmen.«

      Nein, nein, nein.

      Magen auspumpen, ein verzweifelter Vater, pikanter Tratsch im Dorf.

      DIE HEDI, DIE GÄRTNERIN, hat sich damals erbarmt, den Burschen in die Badewanne gesetzt, Wasser eingelassen und sorgsam gewaschen.

      Sie hat ihn beschützt, eigentlich vor dem Vater. Hätte der Kurt Renninger gesehen, dass der Sohn es nicht mehr schafft, auf die Toilette zu gehen, dann wäre ein anderes Lied am Klavier gespielt worden. Trauer hin oder her. Also hat sie die angepinkelten Bettlaken gewaschen und gewechselt, seine mit Exkrementen verschmierten Pyjamas weggeworfen und neue gekauft, das Zimmer regelmäßig gelüftet und gewischt. Jeden Montag und Freitag neue Blumen aus dem Garten ins Zimmer gestellt. Die Hedi hat ihn gefüttert, weil er sonst vor jedem randvoll gefüllten Teller verhungert wäre.

      »Ein Löffel, Bub.«

      »Ich kann nicht.«

      »Nur einer.«

      »Ich kann nicht.«

      »Schau. Das ist die Suppe, die meine Mutter immer gemacht hat.«

      »Ich will sterben.«

      »Ich weiß.«

      »Wenn man jemanden so sehr liebt.«

      »Ich weiß.«

      »Ich mag kein Mensch mehr sein.«

      »Ich weiß.«

      »Bitte mach, dass das aufhört.«

      »Ich würd dir so gern helfen.«

      »Du liebst den Papa«, hat der junge Herr Rudi gesagt.

      »Ja.«

      »Und er?«

      »Das ist schwierig.«

      »Es tut so weh, Hedi«

      »Ich weiß.«

      »Wann hört das auf?«

      »Das dauert.«

      »Wie lange?«

      »Manchmal ewig.«

      Ein aufbewahrter Karton Marmelade. Den hat er überallhin mitgenommen. Zu Vorstellungsgesprächen,

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