Familienroman. Ivana Sajko

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Familienroman - Ivana Sajko

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man mir erzählte, ist nicht dasselbe, was man den anderen erzählt hat. Aber sie haben es uns immer wieder vor dem Zubettgehen vorgekaut. Jeden Abend erneut. Es wäre leicht, ihnen das zu verübeln.

      Die dritte Geschichte konstruiert sich durch meine eigene Auswahl der Ereignisse, der Helden und ihrer Zeugen. Sie ist in sich widersprüchlich, denn ich habe absichtlich Dokumente, Kommentare, Erinnerungen und Sätze ausgewählt, die miteinander in Konflikt stehen. Ich wollte einen historischen Roman schreiben, auf die einzige Art, die ich für möglich halte, unter Vermeidung sowohl des Genres wie auch jeder Ideologie, wie eine Geschichte, die sich vielleicht gar nicht ereignet hat, die sich eigentlich gar nicht ereignen kann. Wir können nur von ihr träumen und sie später wie einen Traum nacherzählen. Absolut persönlich. Ohne irgendetwas zu behaupten.

      Deshalb beginnt sie mit dem Himmel über Zagreb. Dort oben.

       2.

      Sie läuft über die Wolken und denkt, dass alles möglich ist.

      Sie denkt, dass sie denkt, und sie ist nicht dumm, sondern sehr weit oben.

      Und es ist Frühling.

      Die Kumuluswolken des schönen Wetters quellen über die Dächer, auf den Straßen spielen Kinder, Katzen und Tauben Fangen, und Männer sitzen auf den Terrassen der Cafés und reden und reden und reden und reden … und wirken immer noch harmlos.

      Aber das wird nicht lange so gehen, warnt sie ihr Vater. Eigentlich flüstert er.

      – Krieg, meine Kleine.

      Er wird die nächsten vier Jahre dauern, und danach für immer.

      – Es wäre besser für dich, wenn du auf die Erde zurückkommst.

      Doch das fällt ihr nicht im Traum ein. Nicht in ihrem Alter. Und nicht auf dieser Höhe.

      Sie fliegt.

      Und sie ist nicht die Einzige.

      Es gibt nämlich viele andere, die auch meinen, dass alles möglich sei, sie denken, dass sie denken, sie denken, dass es zum Beispiel hinreichend sei, ihre Lunge zu füllen, die Luft in einen Ballon zu pusten, nach der Schnur zu greifen und loszufliegen, und sie sind nicht dumm, sondern sie fliegen wirklich – trotz der Gravitation. Hoch und höher, genau wie sie fliegt, von oben ist die Perspektive optimistischer, es scheint, dass die kommunistische Revolution den Durchmarsch der imperialistischen Mächte aufhalten wird, dass der Krieg Zagreb nie erreichen wird und dass sowohl die Kinder als auch die Katzen und auch die Tauben und auch die Cafés auf ihren alten Positionen bleiben werden. Man muss nur unablässig atmen und hineinpusten, die Schnur des Ballons nicht aus der Hand gleiten lassen und sich nicht um das Flüstern und die Warnungen kümmern. Und so atmen sie. Atmen und pusten. Und dann fallen sie.

      Darin liegt eben die Pointe.

      Sie fallen bereits nach wenigen Seiten, sie zerschellen auf den Bürgersteigen, zerbrechen und rollen dahin wie Kegel und fragen sich, was sie hier unten überhaupt verloren haben, wo sie doch bis vor Kurzem so weit oben waren, wo sie atmeten und pusteten, ganz sicher, dass sie ungeschoren davonkommen werden. Diese Szene wird etwas später folgen, und sie wird tatsächlich einem meisterhaften Wurf gleichen, der mit einem Schwung alle neune wegfegt. Er wird sie niederwerfen, auseinanderpurzeln lassen und am Ende überrollen, und das Wissen darum, dass sie nicht die Einzigen sind, wird es ihnen nicht leichter machen.

      Ungeachtet dessen wird es ihnen sehr wehtun.

      Und deshalb wiederholt ihr Vater hartnäckig, dass sie zurück auf die Erde herabsteigen soll, dass sie darauf achten soll, was sie sagt und auf wessen Seite sie sich schlägt.

      – Am besten auf gar keine.

      Und die Mutter sagt ihr, sie möge auf den Vater hören und sich den Quatsch aus dem Kopf schlagen. Sie sagt ihr, sie solle mal Luft ablassen. Dann werde ihr Kopf wieder schwer werden, und sie würde nicht wie eine Taube durch die Luft flattern, die nur darauf wartet, dass jemand sie mit der Schleuder trifft. Übrigens möchte die Mutter wissen, was sie denn den ganzen Tag so treibe? Und mit wem sie denn befreundet sei? Warum komme sie erst abends nach Hause, vor den Augen aller Nachbarn, vor ihren Fenstern, ihren Gartenzäunen und Gucklöchern in den Türen? Und? Was mit wem und warum? Aber die Tochter antwortet nicht. Sie schweigt nur und zuckt mit den Schultern.

      Sie können das nicht verstehen.

      – Wo warst du?

      – Nirgendwo.

      – Was hast du gemacht?

      – Nichts.

      Nirgendwo und nichts? Die Situation ist zu ernst, um nirgendwo sein zu können, um nichts zu machen und ohne gutes Alibi nach Hause zu kommen. Jemand wird sie anzeigen. Früher oder später. Jemand wird aufdecken, dass sie ein zerknittertes Flugblatt der Parteiorganisation in ihrer Tasche hat und dass sie den Tag mit einer Gruppe der Kommunistischen Jugend verbracht hat, die in der Höhle von Medvednica Bomben aus Spänen und Nitroglyzerin zusammengebraut hat, während die anderen den Eingang bewachten, indem sie Ausflügler mit Gitarren mimten. Das alles steht schon im Polizeibericht:

      DER HIMMEL ÜBER ZAGREB IST EINE GEFÄHRLICHE UTOPIE DER LINKEN.

      DER HIMMEL ÜBER ZAGREB IST EINE KOMBINATION AUS SELBST GEBASTELTEM SPRENGSTOFF UND EINER STRENG VERBOTENEN FIKTION.

      WIR MÜSSEN IHN ABSTÜRZEN LASSEN.

      Sie warnen sie, dass es besser wäre, eine anständige Arbeit zu finden.

      Man muss überleben. Man muss Geld verdienen. Man muss essen.

      Nein, sie können das wirklich nicht verstehen. Sie erklären ihr weiter, dass das Geld nicht am Himmel wachse, sondern dass man es schon immer aus dem Asphalt reißen, unter dem Hammer hervorholen, aus den stählernen Zahnrädern der Maschinen herausklauben oder in vollgepissten Treppenhäusern auflesen musste, Treppen, die schmutzig wurden, bevor die Seifenlauge verdunsten konnte, die sie hätte reinigen sollen. Die Mutter zeigt ihr ihre schrumpeligen Hände und ihre aufgeschürften Knie, und der Vater krempelt sich die Ärmel hoch und spannt das Geflecht der Venen an, die sich unter seiner Haut entlangschlängeln. Das sind Beweise. Sie zählen ihr haarklein alle Kontraindikationen für schwere physische Arbeit auf, die sich auf ihre Muskeln, Knochen und innere Organe verteilt haben, von den Rückenschmerzen ganz zu schweigen. Doch sie haben keine Wahl. Das Geld fließt langsam und lustlos. Das Geld fordert tagtägliche Entbehrungen, Aufopferungen, Überstunden und Diät. Das Geld ist empfindlich wie eine Mimose. Es bedarf großer Fürsorge, ununterbrochener Aufmerksamkeit, Schrubben und Polieren, tadellos sauberer Fenster, durch die es vom ungetrübten Sonnenlicht angestrahlt wird, sowie luxuriöser Bedingungen, in denen es sich auf das eigene Wachstum konzentrieren kann. Und deshalb arbeiten sie und arbeiten und arbeiten und arbeiten, das ganze Leben lang, sie arbeiten nur und arbeiten und arbeiten und arbeiten …

      … GEGEN EUCH SELBST, unterbricht sie ihre Tochter.

      Vielmehr noch: gegen den Fortschritt.

      Genau sie sind es, die die Klassenunterschiede vertiefen. Sie sind diejenigen, die den blitzblanken Zustand der Herrschaftshäuser produzieren und die die Norm an ihren Fließbändern übertreffen. Sie sind diejenigen, die das Geld pflegen, das in fremden Händen gedeiht, während auf ihren eigenen Handflächen nie gesunde und üppige Sprosse aufgehen, sondern nur verkümmerte Sprösslinge, resistent

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