Sophienlust Classic 40 – Familienroman. Bettina Clausen
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Ramona hatte noch einmal zur Mutter hineingeschaut. Aber die schlief schon. Da ging sie hinauf in ihr Zimmer. Es war das gleiche Zimmer, in dem sie schon als kleines Mädchen geschlafen hatte. Hier hatte die Mutter ihr immer eine Gutenachtgeschichte erzählt und sie zum Einschlafen geküsst. Es war der einzige Raum im ganzen Haus, der unverändert geblieben war. Alle anderen Zimmer waren modernisiert worden.
Ramona war der Mutter dankbar, dass sie ihr dieses Refugium ihrer Jugend erhalten hatte. Sie setzte sich ans Fenster, öffnete es und ließ die kühle Nachtluft hereinströmen. Der Gedanke an die kranke Mutter schmerzte, legte ihr aber auch gleichzeitig eine Verpflichtung auf. Sie musste sich um die Kinder kümmern, und sie musste den Stiefvater informieren.
Kurz entschlossen setzte sich Ramona an den zierlichen kleinen Schreibtisch und nahm einen Briefbogen zur Hand. Aber die rechten Worte wollten ihr nicht sofort einfallen. Es war ja auch eigenartig, dass sie jetzt einem Mann schrieb, den sie nicht kannte, der aber der Mutter und den Geschwistern alles bedeutete.
Schließlich schilderte sie ihm in präzisen Worten den Zustand der Mutter. Was er unternahm, musste er selbst entscheiden.
*
Nach drei Wochen, in denen Marianne fast jeden zweiten Tag beim Arzt gewesen war, traf der Antwortbrief ihres Mannes ein. Er war an alle Familienmitglieder gleichzeitig gerichtete. Marianne öffnete ihn und las die Zeilen erstaunt. »Hast du Marc geschrieben?«, wandte sie sich danach an Ramona.
Etwas verlegen nickte Ramona. »Irgendjemand musste ihn doch über deinen Zustand informieren«, verteidigte sie sich.
»Ich mache dir ja gar keinen Vorwurf, Kind«, lenkte die Mutter ein. »Im Gegenteil, Marc bedankt sich für deinen Brief und lässt dir sagen, dass du genau das Richtige getan hast.«
»Kommt Papi nach Hause?«, mischte sich da Rolf in das Gespräch ein. Auch Ramona schaute die Mutter fragend an.
»Sein Vertrag läuft erst in einem halben Jahr ab. So lange muss er noch mit der Rückkehr warten«, antwortete Marianne.
Ramona spürte, wie Hilflosigkeit in ihr aufstieg. In einem halben Jahr konnte viel geschehen. In den letzten drei Wochen hatte sich der Zustand ihrer Mutter so rapide verschlechtert, dass Ramona vor der endgültigen Diagnose des Arztes zitterte. Insgeheim nahm sie sich vor, ihrem Stiefvater auf alle Fälle noch einmal zu schreiben, sobald sie mit dem Arzt gesprochen hatte. Dieses Gespräch sollte in den nächsten Tagen stattfinden, sobald die endgültigen Untersuchungen vorlagen.
Marianne lag jetzt fast dauernd im Bett. Ihr Körper ermüdete so schnell, dass sie sich nicht einmal mehr während der Mahlzeiten auf den Beinen halten konnte. Deshalb war sie froh, als Ramona sich erbot, ihr den Gang zum Arzt abzunehmen.
»Dürfen wir heute nicht mit in die Stadt kommen?«, bettelte Rolf.
»Heute nicht, weil ich zum Arzt gehe«, entschied Ramona. »Ich muss mit ihm über Mama sprechen.«
Folgsam ließen sich die Geschwister zum Kindergarten bringen. Sie baten Ramona jedoch, sie recht bald wieder abzuholen.
Diesen Wunsch konnte Ramona ihnen nicht erfüllen. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten, als sie die Klinik verließ. Sie flüchtete in den Park, der in der Nähe lag. Hier konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie war froh, dass weit und breit kein Spaziergänger zu sehen war. »Mama«, flüsterte sie immer wieder, und ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
Der Arzt hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Krankheit der Mutter war fortgeschritten und unheilbar. Da die Mutter aber nicht erfahren durfte, wie schlimm es um sie stand, musste Ramona das Schicksal der Familie in die Hand nehmen. Deshalb trocknete sie ihre Tränen und ermahnte sich selbst zur Ordnung. Mit Verzagtheit und Schwäche war niemandem geholfen. Sie musste jetzt in erster Linie an die Kinder denken.
Ramona erhob sich und schlug den Weg zum Kindergarten ein. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Musste ihr verweintes Gesicht Liza und Rolf nicht misstrauisch machen? Sie holte einen Taschenspiegel hervor und überprüfte ihr Aussehen. Die Augen waren rot und verschwollen. Nein, so konnte sie den Kindern jetzt noch nicht gegenübertreten.
Ramona ging noch eine halbe Stunde in der frischen Luft spazieren, bis ihr Aussehen sich einigermaßen normalisiert hatte. Dabei fasste sie den Entschluss, noch am gleichen Abend dem Stiefvater zu schreiben und ihm die Wahrheit mitzuteilen. Das hielt sie für ihre Pflicht.
Als sie schließlich den Kindergarten betrat, hatte sie sich so weit in der Gewalt, dass sie nach außen hin sicher und ruhig wirkte. Nur der Schmerz in ihren Augen ließ sich nicht verbergen. Aber um diesen zu bemerken, waren Liza und Rolf noch zu oberflächlich. Sie stürmten der großen Schwester erfreut entgegen.
»Puuh, war das langweilig«, stöhnte Rolf. »Bin ich froh, dass wir jetzt nicht mehr jeden Tag hierherkommen müssen. Zu Hause ist es viel schöner.«
»Du wirst doch nicht wieder fortgehen und uns allein lassen?«, fragte Liza plötzlich ängstlich, als Ramona nichts sagte.
»Wir waren doch immer lieb und haben uns Mühe gegeben, dir zu folgen«, erinnerte Rolf die große Schwester.
Da beugte sich Ramona zu den beiden herab und schloss sie in ihre Arme. »Ich werde euch nie mehr allein lassen«, versprach sie. »Wenn ihr wollt, bleibe ich immer bei euch.«
Liza und Rolf, die den tieferen Sinn dieser Worte nicht verstanden, erdrückten Ramona fast vor Begeisterung. »Nie mehr? Versprichst du uns das?«, vergewisserten sie sich.
Ramona nickte ernst.
Da war die Seligkeit der beiden vollkommen. Munter plaudernd legten sie den Heimweg zurück. Ihre Freude war so groß, dass sie den ganzen Nachmittag damit beschäftigt waren, sich das künftige Zusammenleben mit Ramona auszumalen.
Ramona war froh darüber. Sie wäre an diesem Nachmittag nicht in der Lage gewesen, mit den Kindern zu spielen. Die zwei Stunden, die sie am Bett der Mutter verbrachte, bedeuteten Qual und Schmerz zugleich. Als die Mutter endlich eingeschlafen war, ging Ramona in ihr Zimmer, um dem Stiefvater zu schreiben.
Diesmal diktierte die Verzweiflung ihr die Worte. Dass es einen Menschen auf der Welt gab, der sie verstehen und mit ihr trauern würde, erleichterte sie fast ein wenig. Zum Schluss ihres Briefes bat sie den Stiefvater, sofort zu kommen.
*
Marc Timbre war ein konsequenter Mensch. Was er tat, das erledigte er gründlich. So hatte er sich seit zweieinhalb Jahren in seine Arbeit vertieft und ihr sogar seine Freizeit geopfert.
Ramonas erster Brief hatte ihn zum ersten Mal aus diesem Trancezustand aufgerüttelt. Ihre zweite Nachricht stürzte ihn in tiefste Verzweiflung. Trotz aller Nachteile, die sich daraus ergaben, kündigte er seinen Vertrag nun sofort.
Obwohl Marc zehn Jahre jünger war als seine Frau, liebte er Marianne doch von ganzem Herzen. Er wusste, dass sein Herz immer nur ihr gehören würde. Und nun war sie krank, unheilbar krank. Verzweiflung und Schmerz übermannten ihn, sodass er am liebsten aufgeschrien hätte.
Bevor er heimreisen konnte, musste er noch alles für seinen Nachfolger vorbereiten. Man weigerte sich, ihn vorher gehen zu lassen. Besessen arbeitete er Tag und Nacht.
Da Ramona ihm geschrieben hatte, dass Marianne das ganze Ausmaß ihres Leidens nicht kenne, verzichtete er darauf, sein Kommen in einem Telegramm