Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld
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„Was meinen Sie damit?“, unterbrach Stettner ihn.
„Wie Sie zweifellos wissen, grassierte in dieser Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg die Pest in Norddeutschland, und Pesttote gab es überall.“
„Jaja“, knurrte Stettner ungehalten. „Das weiß ich doch alles. Und?“ „Diese Toten wurden meist einfach verscharrt wie später auf dem ‚Pesthügel‘ zwischen Dammtor und Sternschanze in Hamburg. Warum also diese Mühe mit dem Bleisarg? Damit stimmt irgendetwas nicht – und ich hätte gern Ihre Erlaubnis, zunächst die zuständigen Behörden zu alarmieren.“
Stettner schwieg einen Moment und schien die Situation abzuwägen. Lindberg wusste, dass Rüdiger Stettner ein bestens vernetzter Mann war, der es sorgfältig vermied, höheren Ortes unangenehm aufzufallen. Er würde sich ungern mit einem harmlosen alten Sarg lächerlich machen. Andererseits konnte er sich beruflich noch erheblich mehr schaden, falls von diesem Sarg tatsächlich irgendeine Gefahr ausging und er es zu verantworten hatte, dass womöglich eine Pandemie ausbrach.
„Okay, machen Sie das, Lindberg“, sagte Stettner schließlich. „Rufen Sie meinetwegen das Amt für Gesundheit in Kiel an. Die sollen alles Weitere veranlassen. Ich glaube zwar, dass Sie Gespenster sehen, aber schaden kann es nicht, wenn wir uns als wachsam und besorgt um die Gesundheit der Öffentlichkeit zeigen. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Und Lindberg – halten Sie die Presse raus! Das ist ganz allein meine Sache, falls es denn überhaupt nötig werden sollte.“
Lindberg schluckte eine spöttische Bemerkung herunter und beendete das Gespräch. Dann rief er das Gesundheitsamt in der Landeshauptstadt an und berichtete von seinem Fund. Der zuständige Beamte reagierte erwartungsgemäß wenig enthusiastisch, versprach aber, sich um die Sache zu kümmern. Lindberg war überzeugt, nie wieder in dieser Sache etwas zu hören. Umso überraschter war er, als er kaum eine halbe Stunde später einen Anruf vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin erhielt. Der Archäologe wusste, dieses Institut war zuständig für alle hochinfektiösen Krankheiten. Wie zum Beispiel die Pest.
„Dr. Lindberg?“, fragte eine dunkle Frauenstimme. „Mein Name ist Dr. Sarah Winter. Ich bin Virologin und Bakteriologin hier am Institut. Sie haben heute in Wedel einen möglichen Pesttoten gefunden?“
„Das stimmt, ja“, sagte Lindberg überrascht. „Möglicherweise stammt die Leiche aus der Pestzeit. Wissen Sie das vom Gesundheitsamt? Ich habe nämlich gerade eben erst dort angerufen.“
„Dr. Lindberg, es ist sehr wichtig, dass Sie mir Ihren Verdacht jetzt detailliert erzählen und begründen.“ Die Stimme der Frau klang angespannt.
Lindberg berichtete der Wissenschaftlerin genau, was sich in Wedel an der Kirche ereignet hatte.
„Was hat Sie eigentlich zu dem Verdacht geführt, in dem Bleisarg könnte ein Pesttoter liegen?“, fragte Winter.
„Nun, zum einen war der Sarg sorgfältig verlötet“, sagte Lindberg. „Als wolle jemand sicherstellen, dass nichts hinausgelangen kann. Vor allem aber waren die Seiten des Sarges mit der spiegelverkehrten Zahl Vier, einem Dämonenzeichen und einem alchimistischen Symbol verziert.“
„Aha. Eine Vier also. Das sagt Ihnen was?“ Lindberg fand, die Stimme klang nun etwas herablassend.
„Die Vier in dieser dargestellten Form ist eine Warnung aus alten Zeiten“, erklärte er. „Die spiegelverkehrte Vier symbolisiert vor allem die Pest. Als Virologin dürfte Ihnen doch das Biohazard-Symbol für biologische Gefahren vertraut sein – das mit den drei klauenartigen Kreisen?“
„Ja sicher. Wie schon erwähnt, ist das mein Beruf. Ich kenne dieses Symbol“, sagte Winter ungeduldig.
„Sehen Sie – die spiegelverkehrte Zahl Vier ist eben das Biohazard-Symbol früherer Jahrhunderte.“
„Ich verstehe. Und diese anderen Symbole?“
„Eines davon sieht aus wie ein gebogener Pfeil, der von unten von einer Linie durchstoßen wird. Es ist das alchimistische Symbol für Fäulnis. Nur steht es hier auf dem Kopf. Ich interpretiere dies als die Verneinung von Fäulnis. Das dritte Symbol ist schwierig zu erklären. Stellen Sie sich einen Kreis vor, in dem allerlei Kringel und kreuzförmige Elemente angeordnet sind.“
„Und das bedeutet?“
„Ich habe dieses Symbol erst einmal gesehen. In einem alten Alchimistenkeller, den wir ausgegraben haben. Es steht für den Dämonenfürsten Buer, Herr über fünfzig Legionen von Dämonen. Buer wird in einem Grimoire, also einem Buch über Zauberkunst, aus dem 16. Jahrhundert beschrieben. Dort wird ihm die Fähigkeit zugeschrieben, alle Krankheiten heilen zu können. Auch dieses Symbol steht auf dem Kopf.“
„Das ist allerdings seltsam“, sagte Winter nachdenklich. „Sagen Sie, diese Pastorin in Wedel hat Ihnen erzählt, einer der Handwerker hätte in den Sarg gegriffen?“
„Ja, das sagte sie“, bestätigte Lindberg. „Dieser Trottel muss mit der Leiche in Berührung gekommen sein, und dann wohl auch mit dieser eigenartigen Flüssigkeit, die aus dem Sarg tropfte.“
„Eine Flüssigkeit? Über die möchte ich mehr wissen. Sagen Sie, Dr. Lindberg, fühlen Sie sich eigentlich gesund?“, fragte Winter unvermittelt.
„Das hat man mich heute schon einmal gefragt“, brummte Lindberg, „Aber ja, ich fühle mich bestens.“
„Kein Fieber, kein Schwindelgefühl, keine Schmerzen?“
„Nein, aber ich fürchte, das alles werde ich gleich bekommen, wenn Sie mir nicht endlich sagen, um was es hier geht.“
„Sie haben nicht in den Sarg gegriffen?“
„Nein, zum Teufel, das habe ich nicht! Außerdem hatte ich Gummihandschuhe an. Ich sah das Pestsymbol auf dem Sarg und habe sofort die Gruft verlassen.“
„Also gut, Dr. Lindberg. Wo sind Sie jetzt?“
„Ich bin noch in Wedel, werde mich aber gleich auf den Weg zurück nach Schleswig machen.“
„Nein, das werden Sie nicht!“, sagte die Virologin bestimmt. „Ich komme zu Ihnen. Warten Sie, bis ich bei Ihnen bin. Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Haben Sie das verstanden?“
Lindberg platzte der Kragen. „Hören Sie, ich fahre, wohin ich will“, knurrte er. „Und zwar jetzt sofort. Es sei denn, Sie geben mir eine zufriedenstellende Erklärung, warum ich meine Zeit damit vertrödeln soll, auf eine wildfremde Frau zu warten.“
Winter schwieg einen Moment.
„Dr. Lindberg, was ich Ihnen jetzt mitteile, unterliegt der Geheimhaltung“, sagte sie dann. „Wenn Sie damit hausieren gehen, können Sie in Ihrem Beruf in Zukunft höchstens noch Zivilisationsmüll der Inuit auf Grönland untersuchen. Wenn überhaupt. Haben Sie das verstanden?“
„Ja.