Der bleierne Sarg. Thomas Frankenfeld
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Er ging den Weg ein paar Meter weiter entlang. Der Strahl seiner Lampe glitt voraus und zur Seite. Mal links, mal rechts. Die krummen Äste der Rhododendronbüsche zauberten bizarre, zitternde Schemen auf den Weg. Sievers blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Ihm war etwas Seltsames unter einem Gebüsch auf der Seite des Weges aufgefallen, gut zehn Meter von ihm entfernt. Langsam schritt er näher. Das grelle Licht der LED-Lampe verharrte auf zwei länglichen Objekten, die direkt aus dem Boden zu wachsen schienen. Als Sievers schließlich begriff, was er dort sah, rannte er hin und zog im Laufen hastig seine Dienstpistole aus dem Holster. Eine manuelle Sicherung kannte diese Waffe nicht, sie war sofort schussbereit. Der junge Beamte bog die Zweige des Gebüschs beiseite. Und erschrak.
Stundenlang hatte der Mann im Dunkeln gewartet, ein Schatten unter Schatten. Sein langes hartes Training hatte ihm die Geduld einer Katze und zudem eine verminderte Schmerzempfindlichkeit eingetragen. Er hatte gehofft, die Polizeibeamten würden sich am späten Abend zurückziehen. Doch sie saßen noch immer in ihrem Wagen und gingen hin und wieder eine Runde um die alte Kirche. Das sah nach einer Bewachung bis zum Morgen aus. Er musste seinen Auftrag unbedingt heute Nacht erfüllen, bei Sonnenaufgang würde es zu spät sein. Man würde die Leiche aus der Gruft abholen. Gut, dann eben auf die bewährte blutige Weise. Skrupel kannte die Gestalt im Schatten nicht, sie zog es lediglich vor, so wenig Aufsehen wie möglich bei ihrer Arbeit zu erregen.
Der eine Polizeibeamte bog gerade wieder um die Ecke und leuchtete mit seiner Handlampe den gepflasterten Weg vor ihm aus. Er wirkte entspannt, gelangweilt und wenig wachsam. Warum sollte er auch angespannt sein – von der tödlichen Gefahr wenige Meter neben ihm konnte er nichts ahnen.
Als Berndt Mahlmann an einem dichten Gebüsch am Rande des Weges vorüberging, erhob sich der Schatten in einer lautlosen, fließenden Bewegung. Der vollständig in Schwarz gekleidete Mann trat mit einem Schritt hinter ihn, seine weichen Vibram-Sohlen erzeugten kein Geräusch auf dem Pflaster. Seine rechte Faust hatte sich um eine seltsame Waffe geschlossen. Ursprünglich war es ein Drehmomentschlüssel für Golfschläger gewesen, doch statt der üblichen Werkzeugspitze trug der halbmondförmige Griff nun die aufgeschweißte lange dreikantige Nadel eines Troikarts, ein chirurgisches Instrument zum Punktieren. Die geschliffene Nadel ragte rund zehn Zentimeter zwischen Zeige- und Mittelfinger heraus. Eine kraftvolle Hüftdrehung katapultierte die Faust blitzartig nach vorn – ein klassischer Karatestoß. Die lange Nadel drang mühelos an der Schädelbasis in Mahlmanns Gehirn ein und durchstieß die Medulla oblongata, die Schaltzentrale im Hirnstamm, die unter anderem Atmung und Kreislauf steuert. Mahlmann stieß ein kurzes Ächzen aus und fiel dann in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Innerhalb von Sekunden kam seine Atmung zum Stillstand. Sein Mörder schleifte ihn hinter das Gebüsch und legte sich wieder auf die Lauer.
Sievers keuchte entsetzt auf, als er seinen Kollegen unter dem Gebüsch liegen sah. Der Lampenschein glitzerte auf seinen halbgeöffneten, starren Augen. Gerade wollte der Beamte nach dem Funkgerät an seinem Gürtel greifen, als sich seine Nackenhaare hochstellten, ein Gefahrenreflex aus Urzeiten. Ein winziges Geräusch, das leise Scharren eines Fußes, ein Wispern von Stoff auf Stoff – direkt hinter ihm. Doch bevor er mit der Waffe in der Hand herumwirbeln konnte, traf ihn ein wuchtiger Schlag gegen den Hinterkopf, verbunden mit einem scharfen Schmerz. Sievers torkelte nach vorn, seiner Kehle entrang sich ein Stöhnen. Die Pistole fiel ihm aus der kraftlosen Hand. Der Beamte brach in die Knie und verharrte ein paar Herzschläge lang in einer fast betenden Körperhaltung. Als sein Kopf zur Seite sackte, nahm er für einen Sekundenbruchteil eine schwarze Gestalt schräg hinter sich wahr. Dann wurde es dunkel um ihn. Dass er mit dem Gesicht auf den Körper seines toten Kollegen fiel, merkte Sievers nicht mehr.
6
Hamburg
Von außen glich das trutzige Gebäude am Elbhang einem Hochsicherheitsgefängnis. In den kantigen, kastenartigen Bau aus rötlichen Steinen waren keine großzügigen Fenster, sondern nur Bänder schmaler, verglaster Schlitze eingelassen, die waagerechten Schießscharten ähnelten. Ins Innere des Gebäudes drang entsprechend wenig Tageslicht – was durch ein raffiniertes, von Bewegungsmeldern gesteuertes Beleuchtungssystem ausgeglichen wurde. Auch bei diesem Haus entsprach das wichtigste Sicherheitsprinzip dem einer Haftanstalt: Nichts, was drinnen verwahrt wurde, durfte nach außen gelangen. Doch wenn dies bei der roten Festung an der Elbe jemals geschah, würde die daraus resultierende Bedrohung selbst den Ausbruch eines Serienmörders bei weitem übertreffen: Dann war das Leben von Millionen Menschen in höchster Gefahr.
Das neue Laborgebäude des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin war 2009 eröffnet worden. Es beherbergte neunzig Wissenschaftler und neben zwanzig Laboren der biologischen Schutzstufe zwei und fünf Laboren der Stufe drei auch zwei Labore der höchsten Sicherheitsstufe vier. Nur in Berlin, Marburg und auf der Forschungsinsel Riems im Greifswalder Bodden gab es in Deutschland weitere Stufe-vier-Labore.
In diesen Laboren wurden die tödlichsten Erreger und Infektionskrankheiten erforscht, die auf unserem Planeten zu finden waren. Dazu zählten Ebola, Hanta, Dengue, Krim-Kongo, Marburg, Lassa, aber auch Pocken oder die Pest. Die Inneneinrichtung der Labore bestand fast vollständig aus widerstandsfähigem und gut zu reinigendem V2A-Stahl; die Fenster gehörten zur Brandschutzklasse F-90 und konnten eineinhalb Stunden lang selbst einem tobenden Höllenfeuer widerstehen. Die luftdichten Türen des Labors mit ihren Bullaugen glichen den lukenartigen Durchgängen auf Kriegsschiffen. Dahinter lagen Schleusen, die mit Per-Essigsäure-Duschen ausgerüstet waren. Sie konnten einen Menschen ohne Schutzanzug buchstäblich skelettieren. Aber diese Räume betrat ohnehin niemand ohne einen Ganzkörperanzug mit eigener Sauerstoffversorgung. Im Inneren dieser Anzüge herrschte Überdruck, um nichts hineingelangen zu lassen, im Gegensatz zum leichten Unterdruck der Labors, damit keine Erreger nach außen entweichen konnten.
In einem der Stufe-vier-Labore starrte Dr. Sarah Winter ungläubig auf den Monitor des Transmissions-Elektronenmikroskops.
„Das ist doch nicht möglich!“, entfuhr es ihr.
Ihr aufgeblasener Tyvek-Schutzanzug knisterte leicht, als sie sich noch einmal vorbeugte. Die neunzigtausendfache Vergrößerung, die der Elektronenstrahl ermöglichte, zeigte ein Abbild des Erregers, dem das Ehepaar aus Wedel zum Opfer gefallen war.
Die achtunddreißigjährige Virologin hatte gehört, dass der Mann beim Eintreffen des Notarztes bereits tot gewesen war. Die Frau war noch im Krankenwagen gestorben. Die Leichen lagen nun in einem Sondertrakt des UKE, dem Universitätsklinikum Eppendorf; die Blutproben waren sofort mit einem speziellen Fahrzeug ins Bernhard-Nocht-Institut gebracht worden.
Ratlos blickte sie auf einen Ausdruck, der auf dem Labortisch vor ihr lag. Die Schleuse öffnete sich und Professor Dr. Levy Dahan trat ein. Dahan war Leiter der Virologie am Bernhard-Nocht-Institut. Ausgebildet am Technion in Haifa und an der Hebräischen Universität in Jerusalem, genoss er auf seinem Gebiet ein hohes Ansehen. Vor drei Jahren war er einem Ruf an das Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg gefolgt. Er war ein graziler Mann Mitte vierzig, freundlich, aber außerhalb eines engen Freundeskreises etwas distanziert, verlässlich, aber alles andere als ein Kumpeltyp. Sarah, die eng mit ihm zusammenarbeitete, war erst seit ein paar Wochen mit ihm per Du.
„Levy, kannst du dir das bitte mal ansehen?“, rief sie ihm zu.
Dahan, der von einem Kongress in London nach Hamburg geeilt war, ging zu Sarah hinüber und nahm das Blatt Papier entgegen, das sie ihm hinhielt. Über seine schmalrandige Brille hinweg blickte er auf das Abbild auf dem Monitor.
„Ist das der Fall mit den beiden Toten