Die nackte Zeit. Nicolas Scheerbarth
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"Eine Station ... das ist ... neu. Oh Gott! Wie lange ... bitte, ich flehe Sie an: Wie lange war ich dort unten?"
"Oh, es war schon einige Zeit! Doch es wird alles gut! Sie müssen sich erst noch etwas ausruhen. Glauben Sie mir, Sie werden alles erfahren."
"Ja, gut, wie Sie ... wünschen, Schwester!"
Mit strengen Krankenschwestern sollte man sich nie streiten.
"Oh, isch bin keine 'Schwester'! Ich bin Jay Milland, Chief Staff Surgeon der US Navy. In Ihrer Marine wäre das ein Oberstabsarzt."
"Eine Frau?" entfuhr es mir. Im selben Moment noch bedauerte ich die Frage. Immerhin sprach ich offensichtlich mit den Menschen, die mich vor dem sicheren Tod gerettet hatten. Ich musste mir eingestehen, dass ich über die Streitkräfte der Vereinigten Staaten nicht das geringste wusste, und so exzentrisch sie sich auch organisieren mochten, stand mir doch kein Urteil darüber zu. Die Frau, Jay Milland, lächelte jedoch nur.
"Ja, das ist für Sie erstaunlich. Wir wissen das. Aber isch bin die einzige hier, die so gut deutsch sprischt. Meine Mutter ist von Deutschland, und wir haben einige Jahre in Wiesbaden gelebt."
"Oh, Wiesbaden! Dann kennen Sie meine Heimat! Ich bin aus Friedberg."
"Friedberg ... ja ... isch erinnere misch. Eine schöne Stadt. Doch jetzt müssen Sie sisch ausruhen! Sehen Sie das hier?"
Sie hielt mir ein kleines, graues Kästchen aus einem glatten, mir völlig rätselhaften Material vors Gesicht. Darauf war eine Reihe Erhebungen in verschiedenen Farben.
"Wenn Sie diesen roten Knopf drücken, komme isch. Es kann einen Moment dauern, aber isch bin immer für Sie da."
Dann fuhr sie fort, mir die Knöpfe zu erklären, doch ich musste weit erschöpfter sein, als ich angenommen hatte, denn mit dem warmen, ruhigen Klang ihrer Stimme schlief ich ein.
***
Einige Tage später war ich mit den Knöpfen vertraut, die mein Bett wie von Zauberhand veränderten, mein Essen herbei riefen, und vor allem Frau Doktor Milland. Erstaunlich rasch hatte ich mich an den Gedanken einer Frau als Ärztin gewöhnt, auch wenn Ihr Offiziersrang mir noch einiges Kopfzerbrechen bereitete. Dass die Amerikaner sehr unorthodoxe Meinungen hinsichtlich der gebührenden Stellung einer Frau in der Gesellschaft hegten, erschien mir durchaus glaubhaft, doch noch nie hatte man gehört, dass die weiblichen Sanitätskräfte, die es dort seit dem Bürgerkriege gab, selbst militärische Ränge bekleideten, gar die von Offizieren!
Dennoch muss ich gestehen, dass ich mich nicht dazu bringen mochte, die Worte meiner Betreuerin in größerem Umfang anzuzweifeln. Denn nicht nur ihre freundliche Art hatte mich in Bann geschlagen. Auch ihre Erscheinung wirkte auf meine offenbar so lange eingefrorenen Säfte auf eine Art und Weise, die mich unter anderen Umständen schamesrot gemacht hätte.
Übrigens war sie die einzige Frau, die ich bisher in dieser amerikanischen Station zu Gesicht bekommen hatte. Einige Hilfstätigkeiten wurden abwechselnd von zwei Männern erledigt, deren ruhiges, ernstes Auftreten mir den militärischen Hintergrund wahrscheinlicher werden ließ. Sie sprachen nur wenige Worte deutsch und waren folglich wenig mehr als stumme Diener. Die erstaunlichste Erfahrung für mich war, einen der Männer vor meinem weiblichen Arzt regelrecht stramm stehen zu sehen, während sie ihn offenbar wegen einer Nachlässigkeit zurecht wies.
In dieser fremdartigen Traumwelt, in der ich erwacht war, war Frau Doktor Milland für mich also nicht nur der einzige Bezug zu einer vorerst verborgenen Wirklichkeit. Ihre Arbeit brachte es auch mit sich, dass sie mir näher kam als je eine Frau nach meiner Mutter. Sie nahm eigenartige Untersuchungen an mir vor, bei denen sie mich ohne jede Scheu oder Umständlichkeit berührte.
Einmal, als ich nachts brennenden Durst verspürte, mein Wasser leer fand und sie rief, erschien sie ohne ihren Kittel. Ihr Oberkörper war bedeckt von etwas, das wie ein leinernes Hemdchen aussah. Und unter diesem Hemdchen - ich wage es kaum, meine Beobachtung in Worte zu fassen - zeichneten sich deutlich die beiden runden, harten Spitzen eines weiblichen Busens ab, als trüge sie darunter nichts als die blanke Haut!
Während ich als Naturforscher mittlerweile auf den Beginn einer hoffnungsvollen Karriere blicken konnte, war mir der Erfolg als Ehemann und Familiengründer bisher versagt. Das akademische Leben brachte eine gewisse Abgeschiedenheit mit sich, während mir andererseits in der Fremde der Stadt Frankfurt die familiäre Unterstützung fehlte, die Wahl und Werbung eines heiratsfähigen Mädchens in der Regel voraussetzten.
Dabei bewunderte ich das schöne Geschlecht. Erste, dumpfe, verschwitzte Erfahrungen mit seiner Eigenart hatte ich aus dem Bücherschrank meines Vaters entnommen, aus Büchern mit Abbildungen antiker Statuen und Gefäße, die mir manche Lektion in der Betrachtung spärlich bekleideter und sogar entblößter Frauenkörper gaben.
Weitere Erkenntnisse folgten in der Studentenzeit. Einmal nahmen einige fidele Kommilitonen mich mit ein Haus, das dem Studium einer ganz besonderen Form der Naturkunde gewidmet war. Unter den Händen eines erfahrenen Mädchens verfiel ich in einen Taumel der Erregung, die jedoch viel zu rasch zu Ende ging und mich seltsam unerfüllt zurückließ. Wohl hatte die kleine Liebesdienerin ihre Brüste entblößt und mich davon kosten lassen, doch alles übrige war unter kratzigen Rüschen und allerlei Tand und Stoffen verborgen geblieben.
Gänzlich neue Eindrücke verschafften mir die Expeditionen meines Mentors Freiherr von Hunspach. Bei den Naturvölkern, vor allem jenen Ostafrikas, bekamen meine stillen Sehnsüchte jede nur erdenkliche Nahrung. Kleidung war hier vielerorts völlig unbekannt, und nicht nur das Auge durfte sich an freier, natürlicher Schönheit erfreuen. Bei manchen Stämmen überstieg der Begriff der Gastfreundschaft alles, was ich jemals in meinen kühnsten, einsamen Träumen zu hoffen gewagt hätte.
Hier nun, in dieser verzerrten Wunderwelt, lagen die Dinge offenbar anders. Mit keiner Geste, in keinem Moment, übertrat Frau Doktor Milland mir gegenüber die Grenzen des Anstands, wenn man von der verwirrend unvollständigen, formlos offenherzigen Kleidung absah, die diese Amerikaner für angemessen hielten und die den Traditionen ihres Westens zu entsprechen schien. Man hatte schon gehört, dass Frauen dort, wie nun auch Frau Doktor Milland, zuweilen in Hosen herumliefen, mit Waffen zu hantieren wussten und ganz allgemein im Notfalle die Rolle von Männern übernahmen.
"Der Sturm in den Bergen hat nachgelassen," verkündete mir Frau Doktor Milland eines Morgens. Es gab hier in der Dunkelheit der Polarnacht keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, doch die "Uhr" auf meinem Nachttisch zeigte mir die Tageszeit, nachdem ich gelernt hatte, die elektrisch beleuchteten Ziffern darauf zu verstehen. "Sie schicken jetzt jemanden aus Neumayer. Mitnehmen können die Sie nischt, denn dort gibt es ja nischts als die Forschungsstation, aber dann haben Sie wenigstens jemanden, mit dem Sie rischtig reden können!"
"Oh, Frau Doktor Milland, das ist sehr freundlich ... wobei ich mir gestatten möchte anzufügen, dass ich, seit ich hier aufgewacht bin, niemals das Gefühl hatte, mit Ihnen ... ich ... nun, die Konversation mit Ihnen entsprach in jeder Weise dem, was ich unter 'richtigem Reden' verstehen möchte!"
"Oh, thank you, that's ... danke, meine isch!"
"Ihr Beherrschung des Deutschen ist bewundernswert, und so sehr ich mich nach der Rückkehr in den Kreis meiner Kameraden sehne, so gerne bin ich doch hier, solange es eben sein muss!"
"Sie sind sehr freundlisch!" Wieder ergriff sie meine Hand. Es war eine Geste, die nicht als intim zu verstehen ich inzwischen gelernt hatte. Amerikaner verhielten sich auch in dieser Hinsicht offenbar ganz anders