Die nackte Zeit. Nicolas Scheerbarth
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"Oh, ich danke Ihnen, doch Tapferkeit war von mir bisher nun wirklich nicht gefordert, auch wenn ich einräume, dass manches hier mich doch stärker verwirrt, als es Ihnen vielleicht erscheint. All diese Geräte ... woher hat Amerika nur all diese Wunder, von denen wir in Europa noch nie etwas gehört, gar gesehen haben?"
"Oh, Sie werden überrascht sein!" Sie lächelte mich an. "Sie waren lange dort im Eis. Länger, als Sie glauben."
"Bitte! Sagen Sie es mir! Wie lange war ich bewusstlos? Wochen? ... Monate? Ich möchte es wissen! Ich möchte es von Ihnen wissen!"
Ich blickte direkt in Ihre graugrünen Augen, und sie erwiderte den Blick in einer Art und Weise, die ein wenig Traurigkeit, doch gleichzeitig eine fast einen Zug von Zuneigung erkennen ließ. Mir schwindelte. Sollte ich hier, unter diesen unwahrscheinlichsten aller nur vorstellbaren Umständen, eine Seele gefunden haben, die sich der meinen zuneigte? Ich durfte nicht vergessen, dass sie ein Arzt war, unerhört vielleicht für eine Frau, doch für mein laienhaftes Verständnis ihrer bisherigen Behandlung meiner Schwäche von ausreichend bewiesener Fähigkeit.
"Well, isch denke, Sie sind wieder fit genug. Es wird aber eine echte Schock sein!"
"Schock?"
"Oh, das Wort kennen Sie nischt. Es wird Sie erschrecken, meine isch."
"Sprechen Sie offen zu mir! Einmal muss ich es doch erfahren, und aus Ihrem Mund ist es mir lieber als aus jedem anderen," hörte ich mich sagen, und spürte im gleichen Moment, wie mir das Blut in die Wangen, sie schamrot zu färben.
"Oh, Sie sind lieb! Nun gut. Aber fassen Sie sisch. Es waren viele Jahre. Sehr viele Jahre. Die Welt hat sisch verändert, seit Sie verschollen sind. Sie werden sie nicht wiedererkennen."
"Sie quälen mich, Frau Doktor Milland! Sprechen Sie die Wahrheit aus. Ich bin ein Mann, und auch wenn ich auf keine militärische Ausbildung bauen kann, so fehlt es mir doch nicht an Mut und der Bereitschaft, mich dem Unvermeidlichen zu stellen!"
"Ou kee!" Ich hatte inzwischen gelernt, dieses eigenartige amerikanische Wort als Zustimmung zu verstehen. "Sie sind ... wann hier auf Antarctica angekommen? 1884?"
"Ja. Es war der 14. Februar, als wir zu der Exkursion aufbrachen ... als ich verunglückte."
"Well, heute schreiben wir den 3. Juli ... des Jahres Zweitausendundelf."
Ich starrte sie an. Eine jähe Leere erfüllte mich so vollkommen, wie mich nie zuvor ein Gefühl erfasst hatte. Ich schien ins Bodenlose zu stürzen. Mehr als ein ganzes Jahrhundert sollte ich im Eis gelegen haben! Konnte ich dieser Frau glauben? Ein Teil meines Verstandes weigerte sich. Doch all die wunderbaren, unerklärlichen Dinge, die mich umgaben, sprachen für sie, sprachen für eine lange, lange Zeit des Fortschritts seit meinem Unfall.
"Zwei tausend ...", stotterte ich schließlich.
"Ja, das ist leider die Wahrheit. Sie waren 127 Jahre im Tiefschlaf, und es ist eine Sensation, dass Sie leben. Man wird sich auf Sie stürzen. Das Gas aus Ihrem Körper ... wir konnten eine winzige Menge einfangen ... ist zur Zeit der kostbarste Stoff, den es auf diesem Planeten gibt. Wir verstehen seine Zusammensetzung nicht, noch nicht, doch wenn wir sie analysieren können, wird es eine Revolution auslösen. Und Sie armer Mensch sind ganz allein."
Da war er wieder, dieser Blick von ihr. Langsam kroch der Schrecken in die Leere, die mich erfüllte, ein eiskaltes, abgrundtiefes Erschrecken. Und dann riss etwas in mir. Ich muss aufgeschrien haben, bevor ich schluchzend zusammenbrach. Was dann geschah, entzieht sich meiner Erinnerung, verschwindet im Nebel einer zeitweiligen Besinnungslosigkeit, die mich umfing und mich Dinge tun ließ, die zu tun ich noch Minuten zuvor für völlig ausgeschlossen gehalten hätte. Denn als ich, immer noch zitternd und schluchzend, wieder zu mir kam, fand ich mich in den Armen von Frau Doktor Milland liegen wie ein kleiner Junge in den Armen der Mutter, den Kopf an ihren Busen gepresst, die Arme mit der Kraft der Verzweiflung um ihren Leib geschlungen.
***
Die folgenden Tage verbrachte ich in einem Zustand weitgehender Apathie. Ich aß nur, wenn Frau Doktor Milland mich förmlich fütterte, folgte mechanisch ihren Anweisungen bei Untersuchungen und Behandlungen, und blieb bei all dem innerlich leer wie ein ausgegossener, besser noch, wie ein zerbrochener Krug.
Unterdessen erschien bei mir ein gewisser Timo Hegemann, der sich als stellvertretender Leiter der deutschen Südpolarstation vorstellte. Um gerecht zu sein, muss ich zugeben, dass er sich redlich um mich bemühte, sehr freundlich war und mir mancherlei Hilfen anbot. Doch zum einen war ich nicht in der Verfassung, meine Gedanken auf kommende Dinge zu lenken. Zum anderen wirkte er trotz seiner offenkundigen Herkunft aus meiner Heimat wie ein Fremder. Er nutzte unsere gute deutsche Muttersprache auf eine Art und Weise, die sie mir wie eine Fremdsprache klingen ließ, und seine ganze Art ließ jede gesittete Erziehung missen. Gewiss, er war Geologe und Verwalter, kein Arzt, doch unwillkürlich zog ich Vergleiche zu der so viel einfühlsameren Art meiner "Ärztin". Ja, man benutzte im Deutschen tatsächlich nun diese weibliche Form!
Nach mehreren Tagen reiste Herr Hegemann wieder ab, nicht ohne mir versichert zu haben, dass er alles in seiner Macht Stehende tun werde, um mich rasch nach Hause zu bringen - welches dieses Zuhause im Jahr 2012 auch immer war. Ich sollte in einem "Flugzeug" zuerst nach Südamerika und dann in die Heimat gebracht werden, sobald die Amerikaner mich für reisetauglich erklärten. Zuerst vermutete ich einen lenkbaren, angetrieben Fesselballon, was in meinen Augen schon eine wunderbare Erfindung gewesen wäre. Doch dann zeigte mir Jay das Foto eines solchen Apparats, und alle meine Hoffnungen schwanden, die Welt in nächster Zeit zu verstehen, in die mich mein Schicksal gestoßen hatte.
Ich nutze die intime Form nicht ohne Grund. Denn unterdessen hatte eine weitere Veränderung stattgefunden, und diese war ausnahmsweise von angenehmster Art. Man hatte mich zu einer der zahlreichen, mir unverständlichen Untersuchungen in eine riesige Maschine gesteckt, in der ich lange Zeit völlig bewegungslos liegen musste. Danach fühlte ich mich eigenartig verwirrt und zeigte, ohne recht zu wissen weshalb, zum ersten Mal seit meinem Erwachen Anzeichen von Nervosität und Ungeduld. In dieser Situation blieb Frau Doktor Milland, Jay, länger als sonst bei mir und versuchte, beruhigend auf mich einzuwirken.
"Ich muss es Ihnen einfach gestehen," brachte ich schließlich mühsam hervor, und ob meiner Schwäche standen mir Tränen in den Augen, "ich fühle mich so entsetzlich hilflos! Ich bin ein Mann in den besten Jahren, gewohnt, meine Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Ich habe an gefahrvollen Expeditionen teilgenommen, dem Tod mehr als einmal ins Auge geblickt, und kann mich des Umgangs mit einigen der hervorragendsten Naturforschern meiner Zeit rühmen. Doch hier ... bin ich nichts! Ich bin immer noch schwach und bedarf Ihrer Hilfe, und Sie, Frau Doktor, gewähren mir diese auf wunderbarste, verständnisinnige Art. Aber ich bin doch ganz allein und weiß nichts über die Welt, in die mich mein Schicksal so grausam verpflanzt hat."
"Oh, ja, isch verstehe! Sie armer Kerl!" antwortete sie. "Haben Sie noch etwas Geduld. Wir werden fertig mit unseren Untersuchungen in der nächsten Woche, und wenn das Wetter mitspielt, fliegen wir Sie dann nach Buenos Aires. Ihre Leute sind auch schon ganz ungeduldig, Sie nach Deutschland zu bringen ..."
"Gibt es denn das Deutsche Reich überhaupt noch?"
Nun erhielt ich nach einigem, wie ich am Ende feststellen musste, berechtigten Zögern eine kurze Übersicht über die Weltgeschichte der vergangenen 120 Jahre. Danach war ich unglücklicher als zuvor. War es Trost oder Zuneigung - die Ärztin legte mir die Hand auf die Schulter.
"Seien