Im Land des Feindes. Marthe Cohn

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Im Land des Feindes - Marthe Cohn

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zahllose persönliche Einschränkungen wie soziale Ausgrenzung und Ausgangssperren hinnehmen mussten – ein Martyrium ohnegleichen, während die große Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung tatenlos zusah. Die von der Regierung inszenierte Reichskristallnacht markierte einen entscheidenden Wendepunkt in der deutschen »Judenpolitik«. Hunderte von Synagogen wurden in Brand gesteckt und Tausende jüdischer Geschäfte verwüstet. Horden junger Braunhemden zogen randalierend durch die Städte und zertrümmerten systematisch die Schaufenster jüdischer Läden. Zahllose Juden wurden festgenommen oder auf offener Straße niedergeschlagen; einundneunzig von ihnen starben.

      Wir waren schockiert, als wir von diesen Ereignissen erfuhren. Wir hatten Verwandte in Düsseldorf, die Färbers. Cécile Färber, die Nichte meines Vaters, erwartete ihr drittes Kind. In der Kristallnacht stand die Gestapo vor der Tür und wollte Céciles Mann verhaften. Sie demolierten die gesamte Einrichtung, zerschlugen die Fenster und bedrohten die Familie. Irgendwie gelang es Cécile, sie davon abzubringen, ihren Mann festzunehmen. Noch in derselben Nacht floh er nach Holland, während sie sich bis zur Geburt ihrer Tochter Mindele bei ihrem Dienstmädchen versteckte. Dann folgte sie ihm nach. Später gingen sie nach Palästina und ließen Mindele in der Obhut holländischer Verwandter zurück. Ihre beiden Söhne, den zweijährigen Josie und den dreijährigen Jacquie, schickten sie zu uns. Fred und Cécile fuhren mit der Bahn bis zur Grenze, wo sie die beiden Jungen in Empfang nahmen. Das mutige Dienstmädchen hatte die Kinder bis dorthin begleitet. Sie alle riskierten es, von deutschen Grenzposten verhaftet zu werden, aber sie sahen es als ihre Pflicht an, zu helfen. Ein paar Tage später brachten wir Josie zu Tante Hélène, einer älteren Schwester meines Vaters, nach Nancy. Jacquie blieb bei uns. Die übrige in Deutschland lebende Familie meines Vaters – darunter seine ältere Schwester Feigel, ihr Mann und ihre jüngste Tochter Berthe – wurde verhaftet und nach Polen deportiert. Sie kehrten nie mehr zurück.

      Als der dreijährige Jacquie, der kein Wort Französisch sprach, bei uns eintraf, war er völlig verstört. Er sah uns mit großen Augen an und sagte kein Wort. Doch als sein Blick auf meine damals vierzehnjährige Schwester Hélène fiel, fing er an zu strahlen. Er schloss sie sofort ins Herz und wich ihr nicht mehr von der Seite. Hélène freute sich, einen kleinen »Bruder« zu haben, mit dem sie spielen konnte, und sie genoss seine Zuwendung. Aber da sie wie Fred eine schelmische Ader hatte, piesackte sie den armen Jacquie oft unerbittlich. Oder sie kommandierte ihn herum. Sie sagte zu ihm, sie habe kalte Hände, worauf er zu ihr rannte, um sie ihr zu wärmen. Oder sie bat ihn, ihr etwas zum Anziehen zu bringen. Doch wenn sie sich mit ihm beschäftigte, hatte sie eine unendliche Geduld, um die ich sie heimlich beneidete. Wir alle wussten, dass Jacquie seine Familie lange Zeit nicht wiedersehen würde – möglicherweise nie. Dass Hélène ihn unter ihre Fittiche nahm, schien ihn über die schmerzliche Trennung hinwegzutrösten.

      Nach den Ereignissen in der Kristallnacht beschloss unsere Familie, jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland beizustehen. Auf Anregung unseres jungen Rabbi Elie Bloch erklärten sich viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde bereit, ihren Beitrag zu leisten. Meine Mutter gehörte zu den aktivsten Helferinnen.

      Wir fanden die Untätigkeit der französischen Regierung empörend und diskutierten oft darüber, welche Maßnahmen man gegen Deutschland ergreifen könnte.

      »Die Franzosen haben genauso viel Schuld an dieser Katastrophe wie die Engländer«, schimpfte meine Mutter. »Sie lassen es zu, dass Hitler einfach irgendwo einmarschiert und sich nimmt, was er will. Offensichtlich hat niemand den Mumm, ihm die Stirn zu bieten.«

      Wir nahmen mindestens zehn Familien, die aus Deutschland geflohen waren, vorübergehend bei uns auf. Was sie uns über ihr Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft erzählten, war weit schlimmer als alles, was wir durch die Presse wussten. Man hatte ihnen nach und nach ihre Bürgerrechte entzogen, ihre Renten einbehalten, ihnen Schmuck, Aktien und Kunstgegenstände geraubt, ihnen verboten, Auto zu fahren, Radio zu hören oder sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße aufzuhalten. An den meisten Läden und Betrieben hingen Schilder mit der Aufschrift: JUDEN UNERWÜNSCHT. Auf Schritt und Tritt wurden sie beschimpft oder gar misshandelt.

      Meine Mutter brachte die Flüchtlinge für ein paar Tage bei uns unter und versorgte sie, bis sie weiterreisen konnten. Stéphanie, Cécile und ich versuchten, sie ein wenig aufzuheitern, während mein Vater ihnen finanziell unter die Arme griff. Da man ihre Bankkonten gesperrt hatte, waren viele ohne einen Pfennig in der Tasche aufgebrochen und hatten nur das Notwendigste mitgenommen. Sie waren unterwegs zu Verwandten in Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien, Amerika oder Palästina.

      Das Schicksal dieser Menschen erschütterte mich tief, aber offen gestanden glaubte ich keinen Moment lang, dass uns einmal das Gleiche passieren könnte. Nicht in Frankreich.

      »Das werden die Franzosen niemals zulassen«, beruhigte ich meine Mutter, die sich allmählich ernste Sorgen machte. Ich war überzeugt davon, dass man Hitler durch geschicktes Taktieren aufhalten könne. Als ich von Chamberlains Besuch bei Hitler erfuhr, jubelte ich. Hitler mochte verrückt sein, aber mit der richtigen Strategie würde man ihn schon zur Vernunft bringen. Ich war jung und idealistisch. Ich glaubte an das Gute im Menschen und vertraute darauf, dass es sich am Ende auch durchsetzen würde. Die Ereignisse des Jahres 1939 sollten mich allerdings eines Besseren belehren.

      Doch zunächst geschah etwas, das mein Leben schlagartig verdüsterte. Am Tag vor Pessach starb mein geliebter Großvater. Sein Herz hörte einfach auf zu schlagen. Vielleicht hatte er den Wahnsinn in Europa nicht mehr länger ertragen. Er wurde 76 Jahre alt. An einem warmen Frühlingstag bestatteten wir ihn unter Tränen auf dem jüdischen Friedhof, dessen Errichtung zum Teil sein Verdienst war. Hunderte von Menschen schlossen sich dem Trauerzug an, der mitten durch Metz führte. Kinder sprachen uns an und erzählten, dass Großpapa ihnen immer etwas Süßes zugesteckt hatte. Bedürftige Familien berichteten, dass er ihnen regelmäßig zum Sabbat Kohle und Lebensmittel gebracht habe. Er hatte die schweren Säcke eigenhändig ins dritte oder vierte Stockwerk hinaufgeschleppt. Es überraschte und rührte uns, dass er so beliebt gewesen war. Großpapas Tod war ein großer Verlust für uns. Doch einige Jahre später waren wir unendlich dankbar dafür, dass er nicht mehr hatte erleben müssen, was in Frankreich geschah. Unser Großvater hatte, wenn auch nicht bewusst, einen würdevollen Tod den entwürdigenden Schikanen vorgezogen, die uns erwarteten.

      Als im September desselben Jahres Deutschland und die Sowjetunion in Polen einmarschierten und Frankreich und Großbritannien ihnen den Krieg erklärten, wurde mir endgültig klar, wie naiv meine Hoffnung auf eine friedliche Lösung gewesen war. Meine Eltern ängstigten sich weit mehr als wir Kinder. Schließlich hatten sie schon einen Weltkrieg miterlebt. Als Vater dreier Kinder war Papa zwar vom Militärdienst freigestellt worden, aber natürlich hatte die Familie unter den Härten des Kriegs gelitten. Wenn Cécile und Fred nachts von den Bombardements der Alliierten geweckt wurden, lief Maman ins Kinderzimmer und sprach mit ihnen das Schma Israel. »Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig!«, betete sie inbrünstig. Meine Geschwister beruhigten sich sofort und schliefen trotz des Lärms wieder ein.

      In Frankreich erfolgte die allgemeine Mobilmachung. Fred, der in Nancy eingezogen wurde, kam direkt an die Maginot-Linie, ein schwer befestigter Verteidigungsgürtel entlang der Grenze zu Deutschland. Arnold leistete seinen Militärdienst in Tunesien ab und blieb dort bei seinem Regiment. Die ganze Familie, besonders meine Mutter, hatte große Angst um meine Brüder.

      Nicht lange danach veröffentlichte die Stadtverwaltung eine amtliche Bekanntmachung: Alle Familien, die es sich leisten konnten, sollten die Stadt verlassen.

      »Weggehen?«, rief mein Vater empört. »Wohin denn? Alles, was wir haben, ist hier in Metz. Hier haben wir uns eine Existenz aufgebaut.« Er hatte seinen Fotoladen und Cécile ihren Hutsalon; unsere jüngeren Schwestern besuchten noch die Schule. Und was sollte mit unserer Großmutter geschehen? Und mit Großpapas kostbarer Bibliothek?

      »Für Ihre Familie ist Poitiers vorgesehen«, sagte uns der

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