Im Land des Feindes. Marthe Cohn
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Dann war alles voller Lärm und Rauch und Explosionen. Bomben fielen vom Himmel. Der Bahnhof verschwand unter einer Wolke aus beißendem schwarzen Rauch; der Versorgungszug verwandelte sich in einen Feuerball. Menschen schrien und rannten wild durcheinander, um sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Ich sah, wie sich ein Paar mittleren Alters in den Eingang eines nahe gelegenen Hauses flüchtete, und rannte hinterher. Zu zwölft drängten wir uns in den kleinen Hausflur. Zu ängstlich, um das Geschehen mit anzusehen, drückten wir uns an die Wände, die Hände über den Ohren. Ich presste die Ellbogen an die Knie und kauerte mich zusammen. Jede neue Explosion erschütterte den Boden unter uns und jedes Mal erschreckte ich mich zu Tode.
»Sie haben es auf die Eisenbahn abgesehen!«, rief uns ein junger Mann von der Haustür aus zu, während wir schweigend, im Sitzen oder Stehen, abwarteten. Nach einer scheinbaren Ewigkeit wurden die Abstände zwischen den einzelnen Detonationen größer und das Dröhnen der Flugzeuge schwächer. Ein letzter, ohrenbetäubender Knall, dann herrschte Stille. Offenbar hatten die italienischen Soldaten ihren Auftrag erfüllt und flogen mit leeren Bombenkammern wieder in Richtung Osten davon.
Wir traten zögernd und blinzelnd ins Freie, voller Angst vor dem, was uns erwarten würde. Überall war Rauch und Staub und wir hatten Mühe, etwas zu sehen. Als ich zitternd dastand, galt mein erster und einziger Gedanke meiner Mutter. Ich dachte weder an die verletzten Flüchtlinge und Soldaten noch an Cécile, sondern wollte nur so schnell wie möglich nach Hause, um Maman zu sagen, dass mir nichts passiert war. Ich ging ein paar Schritte und fing dann an zu laufen. Ich steuerte auf die kleine Fußgängerbrücke zu, über die ich erst Minuten zuvor gekommen war. Rauch und Flammen hüllten den Zug darunter ein. Die Luft war so dick, dass ich kaum die andere Seite erkennen konnte.
Die Menschen um mich herum standen unter Schock. Ich war die Einzige, die nicht wie gelähmt war. Mit der Hand vor dem Mund und tränenden Augen entschloss ich mich, rasch die Brücke zu überqueren. Aber kaum hatte ich einen Schritt getan, sah ich, wie ein Eisenbahnarbeiter auf der anderen Seite wild mit den Armen fuchtelte und mir zurief, dass ich stehen bleiben solle.
»Arrêtez! Arrêtez! Bleiben Sie, wo Sie sind!« Aber ich musste unbedingt nach Hause. Ich konnte an nichts anderes denken. Hustend rannte ich durch die Flammen und den dicken schwarzen Rauch und verlor beinah das Gleichgewicht, als unter mir ein weiterer Teil des Zugs explodierte. Ich hielt mich kurz am Geländer fest und rannte dann weiter. Am anderen Ende angekommen, packte mich der Eisenbahner und riss mich zur Seite.
»Sind Sie denn vollkommen verrückt geworden?«, schrie er und starrte mich wütend an. »Haben Sie denn nicht die Gefahr erkannt? Das war ein Munitionszug. Der ist hoch explosiv. Das ganze Ding hätte direkt unter Ihren Füßen in die Luft gehen können!«
Ich befreite mich aus seinem Griff und erklärte, dass ich dringend nach Hause müsse.
Ich drängte mich an ihm vorbei und setzte meinen Weg fort. Ich brauchte zwanzig Minuten, um mich durch die Scharen von Menschen zu kämpfen, die mir entgegenkamen und sehen wollten, was passiert war und wie sie helfen konnten. Als ich endlich unser Haus erreichte, kam mir Maman mit ausgestreckten Armen durch den kleinen Vorgarten entgegengelaufen. Sie war in Tränen aufgelöst. Sie hatte schon zu viele Bombardierungen miterlebt.
»Marthe! Marthe!«, schluchzte sie. Mein Gesicht war rußgeschwärzt, meine Haare zerzaust, aber sie war froh, dass ich zu Hause und in Sicherheit war.
»Mir geht’s gut, Maman, mach dir keine Sorgen«, sagte ich und strich ihr beruhigend über den Rücken. Über ihre Schulter hinweg sah ich meinen Vater und den kleinen Jacquie, beide waren sichtlich erleichtert, dass ich wohlbehalten zurück war.
»Tante, Tante«, rief Jacquie. »Ich hab dir doch gesagt, dass ihnen nichts passiert.«
Meine Mutter schob mich ein Stück von sich und sah mich erschrocken an. »Aber wo ist Cécile?«
Ich wurde blass, denn mir wurde bewusst, dass ich überhaupt nicht mehr an meine Schwester gedacht hatte. Schnell erwiderte ich: »Ihr geht’s gut. Sie wollte direkt zum Laden gehen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Gott sei gedankt!« Meine Mutter stieß einen Seufzer aus und knetete ihre Schürze, die vom Backen ganz mehlig war. Da Hélène und Rosy in der Schule auf der anderen Seite der Stadt waren, musste sie sich um sie zum Glück keine Gedanken machen.
Sie lief auf meinen Vater zu und rief: »Fischel, was ein Segen! Unsere Kinder sind in Sicherheit.«
Sobald es ging, verdrückte ich mich und eilte mit einem dicken Kloß im Hals den Hügel hinunter. Im Tal wimmelte es inzwischen von Helfern, die auf die Gleise kletterten, um sich um die Verletzten zu kümmern. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Hunderte von Menschen waren ums Leben gekommen. Frauen und Kinder lagen auf dem Bahndamm, blutüberströmt, mit ihren Lieben im Arm. Der Zug war vollkommen zerstört, aber das Feuer war jetzt unter Kontrolle. Auf der Suche nach Cécile sah ich in jedes einzelne Gesicht und betete, dass sie überlebt hatte. Madame Guillaumes Häuschen war unbeschädigt. Ihre Nachbarn hatten weniger Glück gehabt.
Nachdem ich meine Schwester im Tal nicht finden konnte, rannte ich den Hügel wieder hinauf zum Laden. Vielleicht war sie ja dort, überlegte ich, vielleicht hatte sie gehofft, mich wohlbehalten hinter der Theke anzutreffen. Aber dort war auch keine Spur von ihr. Ich stand etwas unschlüssig herum und fragte mich, wie ich meiner Mutter beibringen sollte, dass ich Cécile nicht gefunden hatte.
Ich hörte sie, bevor ich sie sah – ein leises Keuchen ein paar Schritte hinter mir. Ich fuhr herum und stand einer bleichen, verweinten Cécile gegenüber. »Marthe«, flüsterte sie, als ich in ihre ausgebreiteten Arme stürzte. Sie war unverletzt, hatte die Bombardierung im Schutz der Bäume in Madame Guillaumes Garten überlebt. Aber sie hatte große Angst um mich gehabt, und war, nachdem die Flugzeuge verschwunden waren, über die Gleise gerannt und hatte überall nach mir gesucht. Da sie mich nicht unter den Verletzten fand, klapperte sie sämtliche Krankenhäuser der Stadt ab, die Verwundete aufgenommen hatten. Nachdem ihre Suche erfolglos geblieben war, beschloss sie, es ein letztes Mal beim Laden zu versuchen, bevor sie den Heimweg antrat, um unseren Eltern die schlimme Nachricht zu überbringen.
Weinend vor Erleichterung gingen wir Arm in Arm nach Hause, fassungslos über unser Glück, noch einmal davongekommen zu sein. Obwohl unser Leben durch die Auswirkungen des Kriegs auf den Kopf gestellt worden war, hatten wir ihn bisher nie am eigenen Leib erlebt. Nie mehr würde ich mir die Radioberichte über Luftangriffe in Europa anhören, ohne daran zu denken, was ich heute durchlitten hatte. Mit gerade mal 20 Jahren begriff ich, dass sich unser Leben unwiderruflich verändert hatte. Es gab keine Gewissheiten mehr.
Wir waren bestürzt, als Onkel Léon ankündigte, dass er mit seiner Frau und seiner Tochter nach Toulouse ziehen wolle. Großmutter entschloss sich, ihren Sohn und seine Familie zu begleiten. »Hier wird es zu gefährlich«, warnte Léon meine Mutter. »Ihr solltet auch weggehen, bevor es zu spät ist.«
Maman schüttelte den Kopf. »Wir sind zu viele, um wieder ganz von vorn anzufangen. Einmal reicht. Ich werde meinen Kindern das nicht wieder zumuten. Es wird schon alles gutgehen.« Und so verabschiedeten wir uns unter Tränen und mit Küssen von unserer Großmutter und wünschten allen viel Glück.
»Bis bald«, sagte Léon betont munter und küsste meine Mutter auf beide Wangen.
»Vielleicht«, erwiderte sie leise.
Sie fuhren noch am selben Abend in Onkel Léons Auto los und schlossen sich Tausenden von Flüchtlingen