Das Auge der Medusa. Johanna T. Hellmich
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Inhalt
2 - Die Strahlen der Morgensonne
An der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit schwebte eine junge Frau, nicht sicher, in welche der beiden Welten sie gehörte. Sie wartete auf ein Zeichen, auf einen Ruf, der ihr die Richtung weisen würde. Vielleicht träumte sie bereits, vielleicht war diese Grenze bloß eine Erfindung ihres schlafenden Geistes. Sie betrachtete ihre Füße, zwischen ihnen befand sich ein silbern glänzender Faden. Sie hob zuerst den rechten Fuß und spürte, wie alles um sie verschwamm. Sie setzte ihren bloßen Fuß wieder ab, ihr helles Nachthemd wehte um ihre Knöchel. Sie hob den anderen Fuß. Eine Böe ergriff sie und hob sie mühelos in die Luft. Ihr Haar und ihr Kleid flatterten wild in dem plötzlich aufziehenden Sturm, doch spürte sie keine Furcht vor dem Gewitter. Sie wusste nun, dass sie nicht länger in der Wirklichkeit war. Der Wind trug sie höher und höher in das verborgene Land der Träume.
Der Traum, in dem sie landete, war nicht ihr eigener. Sie wusste nicht einmal, wie ihre eigenen Träume aussahen, es hatte sie noch nie dorthin verschlagen. Sie sah sich um, die Umgebung kam ihr seltsam bekannt vor, doch sie konnte nicht sagen, woher. Es war dunkler als in den meisten Träumen, als ob ein körniger Filter über allem liegen würde. Sie stand mitten auf einer Straße, in der Mitte eines kleinen Dorfes, alte Holzhäuser drängten sich dicht aneinander. Im Hintergrund stachen Berge hoch in den Himmel, ganze Ketten prägten den Ausblick. Und vor ihr auf der Straße, das Gesicht eben diesen Bergen zugewandt, stand die Figur eines kleinen Kindes, nicht älter als fünf Jahre.
Sie erkannte die Zeichen, doch sollte das eigentlich nicht möglich sein. Ihr Traumfänger sollte sie vor Albträumen beschützen, darum trug sie das Ding ja auch Tag und Nacht um ihren Hals. Sie stieß einen Fluch aus und drehte sich langsam im Kreis. Das Erste, was ihr auffiel, war, dass keines der Häuser eine Tür besaß. Türen waren normalerweise ihr Ausweg, doch diesmal wurde sie im Stich gelassen. Der Himmel war dunkel, doch es war nicht Nacht, weder Mond noch Sterne waren zu erkennen. Es war, als ob der Träumer vergessen hätte, den Himmel zu träumen. In den Häusern brannte kein Licht, und doch waren Schatten hinter den Vorhängen und Fensterscheiben zu erkennen. Wer auch immer der Träumer war, er hatte wohl kein gutes Verhältnis zu den Leuten an diesem Ort. Mit jeder Sekunde, die verging, schien die Bergkette näher zu rücken. Sie wusste, dass der Träumer dorthin musste.
Und so seufzte sie tief und ging auf das kleine Kind zu, das schon geduldig auf sie wartete. Als sie neben ihm stand, blickte es endlich zu ihr auf. Sein Blick war starr und fremd, nicht der Blick eines fünfjährigen Buben. Sie nahm seine Hand in ihre und lächelte frustriert auf ihn hinab.
„Zeig mir den Weg, Kleiner.“
Der Bub wandte sich wieder den Bergen zu und begann, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er zog sie einfach mit sich. Sie wusste, dass sie nicht selbst vorangehen konnte und sich der Geschwindigkeit des Träumers anpassen musste. Es würde eine lange Nacht werden.
„Ich heiße Charly. Wo ist meine Mama?“ Seine Stimme war genauso starr und fremd wie sein Blick, ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Sie hatte beinahe vergessen, wie unheimlich Albträume waren. Sie antwortete ihm nicht, denn ihre Erfahrung sagte ihr, dass es sinnlos war, ein Gespräch mit dem Träumer anzufangen. Sie wünschte nur, Charly würde sich etwas beeilen.
Trotz ihres langsamen Tempos wurden die Berge schnell größer. Sie hatte vor langem aufgehört sich zu wundern, wie das Überbrücken von Entfernungen in Träumen funktionierte. Sie fuhr sich gedankenverloren mit ihrem Zeigefinger über die Stirn und ertastete ihr drittes Auge, als Charly erneut sprach.
„Wir sind gleich da. Wo ist meine Mama?“
Sie riss sich zusammen und ignorierte ihn. Sie könnte ihm noch so lange erklären, dass er träumte, es würde nichts bringen. Sein Unterbewusstsein würde ihn nie wahrhaben lassen, dass die Dinge, die er sah, nicht real waren, sondern bloß eine Illusion seines Geistes. Irgendetwas wollte er Charly mitteilen, vielleicht eine Warnung, vielleicht verarbeitete sein Kopf aber auch einfach nur den vergangenen Tag.
Sie wusste nicht einmal, wie alt Charly wirklich war, doch sie nahm stark an, dass seine derzeitige Erscheinung eher seinem Aussehen entsprach, das er während dieser Erinnerung hatte. Irgendetwas musste passiert sein, als er fünf Jahre alt war. Und etwas in seinem Alltag hatte ihn nun wieder daran erinnert, sodass sein Unterbewusstsein versuchte, diese unterdrückte Erinnerung zu verarbeiten. Sie wunderte sich, warum sie das alles wusste, warum sie sich so sicher war, was vor sich ging. Sie war schon lange nicht mehr in einem Albtraum gewesen und hatte sich auch nie freiwillig mit ihnen beschäftigt. Vielleicht zahlten sich die vielen Abende, die sie mit irgendwelchen Fachzeitschriften zum Thema Psychologie und Bewusstsein verbracht hatte, endlich aus.
So sehr in ihren eigenen Gedanken verloren, bemerkte sie zuerst nicht, dass sie bereits den Fuß des Berges erreicht hatten. Sie blickte hinauf, doch der Gipfel war nicht zu erkennen. Der Berg schien sich förmlich über die beiden zu lehnen wie eine furchteinflößende Kreatur. Sie bekam das Gefühl, dass der wahre Albtraum noch gar nicht begonnen hatte. Was auch immer sie auf diesem Berg erwartete, war nicht gut.
Doch bevor sie Charly fragen konnte, wohin sie als nächstes gehen mussten, waren sie nicht länger am Fuß des Berges, umgeben von Gebüsch. Stattdessen standen sie in einer Höhle, deren Decke so weit oben war, dass sie sie nicht erkennen konnte. Die Wände schienen zu leuchten, eine rote, zähe Flüssigkeit rann an ihnen herab. Sie fluchte erneut. War das Blut? Es schien ernst zu werden.
Langsam wuchs der Rest der Erinnerung aus dem Boden. Zuerst konnte sie nur Schemen erkennen, Lichter und Schatten, die sich gegenseitig durch die blutende Höhle jagten, bis sie sich endlich zu wabernden Formen zusammenschlossen.
Die junge Frau spürte Hitze in sich aufsteigen. Der Traum wurde eben um sie herum erbaut, und während Charly ein Teil des Traumes war, war sie ein Fremdkörper. Die sich ständig verändernde Materie um sie herum bereitete ihr Kopfschmerzen, und sie musste sich konzentrieren, um auf den Beinen stehen zu bleiben. Sie kniff die Augen zusammen und richtete ihren Blick auf den Höhlenboden, der einer der wenigen statischen Bestandteile des Traumes war. Da griff der Träumer nach ihrer Hand. Sie sah halb lächelnd auf Charly hinab. Auch er veränderte sich nicht, er war noch immer klein und hatte unheimlich kalte Augen. Seine