Das Auge der Medusa. Johanna T. Hellmich
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Langsam beruhigte sich der Traum, die Formen und Schatten verfestigten sich. Der Bub zog sie hinter einen kleinen Felsen, der gerade eben aus dem Boden gewachsen war. Charly kauerte sich dahinter zusammen, zitternd, die starren Augen an die Wand gerichtet. Die Frau hatte seine Hand losgelassen, doch auch sie zitterte. Eine eiskalte Brise traf sie. Verdrossen sah sie auf ihr dünnes Nachthemd hinab. Warum hatte sie nichts Wärmeres zum Schlafen angezogen?
Doch ihre Aufmerksamkeit wurde schon bald auf etwas anderes gelenkt. Vor ihr, in der Mitte der riesigen Höhle, stand eine Gruppe Menschen in einem geordneten Kreis. Sie trugen lange Roben und hielten sich an den Händen, während sie im Chor eine Formel in einer lang vergessenen Sprache sangen. Sie bewegten sich rhythmisch zu einer Melodie, die nur sie hören konnten, in ihrer Mitte leuchtete etwas. Es war kein Feuer, doch es flackerte wie eines. Sie konnte nicht erkennen, was die Lichtquelle war, doch diese befand sich am Boden in der Mitte des Kreises und ließ die Schatten der musizierenden Mönche tanzen.
Die junge Frau wollte näher an das Geschehen, doch Charly saß wie festgefroren am Boden. Es sah nicht so aus, als ob er sich jemals von dort weg bewegen würde. Also ließ sie ihren Blick wandern, was sie schon im selben Moment bereute. An einer Wand der Höhle standen Käfige. Der Großteil war mit verschiedenen wilden Tieren besetzt, doch sie konnte in einem die Gestalt eines Kindes ausmachen. Sie wusste sofort, dass das Charly war. Etwas Furchtbares war ihm widerfahren, als er fünf Jahre alt gewesen ist. Sie war nicht sicher, wie viel von dem, was sie sah, nur seiner Fantasie entsprang, doch die Botschaft war klar. In ihrer Verzweiflung und dem Drang, näher an das Geschehen heranzukommen, beugte sie sich zu dem Charly, der zu ihren Füßen saß, und sah ihm direkt in seine leblosen Augen.
„Charly. Charly! Schau mich an. Ich weiß, du hast Angst, aber das ist alles nicht echt, okay? Aber ich muss … Ich will sehen, was da passiert, was dir passiert ist. Du musst mir dabei helfen, Charly, okay?“ Sie packte ihn bei seinen schmalen Schultern und schüttelte ihn sanft. Sie wusste nicht, was sie sich erhoffte, sie hatte noch nie Erfolg dabei gehabt, zu einem Träumer durchzudringen, aber Charly erwiderte ihren Blick plötzlich. Dieses Mal war sie sich sicher, dass er sie sah und erkannte.
„Wo ist meine Mama?“
„Ich weiß nicht, wo deine Mama ist. Aber wenn du mir hilfst, näher dort ranzukommen, helfe ich dir, sie zu finden, abgemacht?“
Sie hoffte, dass er sie verstand. Sie wusste zwar nicht genau, warum sie unbedingt sehen wollte, was dort vor sich ging, aber sie vertraute ihrem Bauchgefühl. Vielleicht würde die Sache klarer werden, sobald sie erwachte. Auch ihr Bewusstsein war trüb und eingeschränkt, wenn sie in Träumen wandelte, das hatte sie auf die harte Tour lernen müssen. Zu ihrer Überraschung stand Charly langsam auf und hob benommen einen Arm. Mit seinem Finger strich er über ihre Stirn und zeigte auf ihr drittes Auge, das auf ihrer Stirn saß, eingebettet zwischen ihren Augenbrauen. Sie war froh, dass er sich, sobald er aufwachte, nicht mehr an sie und ihr drittes Auge erinnern würde. Dann wanderten seine kleinen Finger weiter und strichen über ihr seidig schwarzes Haar, das bis auf ihre Schultern fiel. Die ganze Zeit lächelte sie ihm aufmunternd zu und hoffte, dass er sie verstanden hatte.
Als seine Finger das Ende ihres Haares erreicht hatten, wandte er sein Gesicht dem Kreis zu. Fast schon instinktiv griff er nach ihrer Hand und begann, sich langsam der Szene zu nähern. Sie wusste, dass in dieser Phase des Traumes niemand den Träumer und seine ungewöhnliche Begleiterin sehen würde, und doch beschlich sie ein seltsames Gefühl, als sie begann, langsam die Gesichter der Menschen zu erkennen. Eines stach aus der Menge heraus. Vielleicht, weil der Mann nicht mitsang, vielleicht, weil seine Kleidung nicht braun, sondern blutrot war. Sein Gesicht schien auch am stärksten in der Erinnerung des Träumers zu sein, die Züge waren klar und weniger verschwommen als die anderen Gesichter. Er hatte kurzes, dunkelbraunes Haar, einen leichten Dreitagebart und einen selbstgefällig hochgezogenen Mundwinkel. Er hielt seine Nachbarn nicht bei der Hand, sondern hatte seine Hände gebieterisch gehoben und schien das mysteriöse Licht in sich aufzunehmen. Wahnsinn stand in seinen Augen.
Das rhythmische Schwanken und Singen des Kreises schien seinen Höhepunkt zu erreichen, als die Stimmen immer lauter und deutlicher wurden. Plötzlich ließen alle voneinander ab und hoben gleichzeitig die Hände gen Himmel, während ein ohrenbetäubendes Tosen den Raum erfüllte. Licht und Schatten schienen auf den Lärm zu reagieren und tanzten noch wilder. Die Schatten an den Höhlenwänden wurden zu Monstern. Sie musste zweimal hinsehen, um glühende Augenpaare in der Dunkelheit zu erkennen. Das war nicht gut, gar nicht gut. Wenn es so weiterging, würde Charly bald von seinen Albtraumfiguren und Monstern durch den Traum gejagt werden.
Einige der Sektenmitglieder brachen aus dem Kreis aus und gingen auf die Käfige zu. Die Tiere in ihnen waren durch den Lärm und die Lichter unruhig geworden. Die fünf in braunen Roben bekleideten Menschen blieben unsicher stehen. Die junge Frau konnte einen Tiger erkennen, ebenso wie ein kleines Krokodil und einen Wolf. Ob die fünf wussten, worauf sie sich da eingelassen hatten?
Als die Menschen im Kreis bemerkten, was los war, brachen noch einmal fünf auf, um ihren Kameraden zu helfen. Nur vier Leute blieben, was den Kreis in ein ungleichmäßiges Trapez verwandelte. Zurückgeblieben war auch der Anführer, doch auch er hatte seine volle Aufmerksamkeit den Käfigen zugewandt. Zu zehnt schafften sie es irgendwie, die Tiere zu beruhigen und unter ihre Kontrolle zu bekommen, doch die Frau stellte mit Unbehagen fest, dass nun Tiere und Menschen glühende Augen besaßen. Sie hatten nicht mehr viel Zeit.
Da tönte plötzlich eine einzelne Stimme laut durch die Höhle. Es war der Mann im roten Gewand. Er streckte seine Hände erneut dem Licht entgegen und hatte sein Gesicht der Höhlendecke zugewandt.
„Oh, Heka, Gottheit der Magie, Dämon der ersten Stunde, Herr und Mutter von uns allen, ich rufe Euch und biete Euch diese niederen Leben, dass Ihr auferstehen und Euren Platz als Gottheit erneut einnehmen möget! Ein Platz, mit mir an Eurer Seite, als Berater und Schüler. Ich rufe Euch, Heka!“
Was für ein fanatischer Idiot, dachte sie. Doch obwohl ihr erster Gedanke war, die ganze Sache beiseite zu schieben, hielt sie etwas davon ab. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht des Anführers und versuchte, es sich einzuprägen. Und dieser Name. Heka. Was, wenn doch mehr dahintersteckte? Was, wenn Charly tatsächlich das Opfer einer seltsamen Sekte geworden ist? Eine Sekte, die mehr als verrückt schien. Allerdings wusste sie nur zu gut, dass Magie tatsächlich existierte, und die seltsamen Lichter konnten wohl oder übel nur durch Magie erklärt werden.
Sie wurde durch eine Bewegung aus ihren Gedanken gerissen und sah, wie eine Frau mit langem blondem Haar den Käfig des Jungen aufsperrte. Sie spürte, wie Charlys Hand ihre drückte. Aus der Kraft, die dieser kleine Junge besaß, schloss sie, dass er mittlerweile erwachsen sein musste. Sein Griff war der eines Mannes, nicht der eines Kindes.
Sie konzentrierte sich auf die blonde Frau und auf die Version von Charly, die gerade aus seinem Käfig gezogen wurde, blass und verschreckt. Sie sah, wie seine Blicke verängstigt herumirrten und nach einem Ausweg suchten, dabei musste sein Blick schließlich auf den Anführer der Sekte gefallen sein. Das Nächste, was sie hörte, war Charly, der neben ihr anfing zu schreien. Plötzlich brach die Hölle los.
Die Tiere drehten durch, der Tiger schlug mit einer seiner mächtigen Pfoten nach den Menschen um ihn herum, und auch das Krokodil schnappte um sich. Der Charly aus dem Käfig war verschwunden, die Aufmerksamkeit aller lag plötzlich auf ihr und dem kleinen Kind neben ihr. Wie konnte das sein? Wieso konnten sie sie sehen?
„Verdammt. Lauf, Charly, lauf!“, rief sie und versuchte, ihn mit sich zu ziehen, doch seine Füße wollten sich nicht bewegen. Verdammte Albträume, verdammte Träumer, die immer genau im falschen Moment die Nerven verloren. Sie schüttelte ihn und versuchte es noch einmal, diesmal machte er sogar ein paar Schritte, bevor er erschrocken stehenblieb und den rasenden Schatten und