Vor Dem Fall. L. G. Castillo

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Vor Dem Fall - L. G. Castillo Gefallener Engel

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kann dich nicht bitten, meinen Standpunkt dazu zu verstehen, Gabrielle«, erklärte Raphael.

      »Bist du hier nicht glücklich, Raphael?«

      »Gabrielle, du machst dir zu viele Gedanken. Ich gehe nur für einen Tag. Und dazu nur einen irdischen Tag… vielleicht zwei, aber mehr als das nicht. Das ist das Geringste, was ich tun kann, um die Probleme zu beheben, die möglicherweise durch mein Eingreifen entstanden sind.«

      »Bist du sicher, dass das alles ist?« Gabrielles grüne Augen hielten seinen Blick unbeirrt fest.

      Das erregte Rachels Aufmerksamkeit. Die Worte hingen in der Luft – und ebenso Raphaels Zögern, auf die Fragen zu antworten. Raphael hatte noch nie nach Worten suchen müssen.

      »Ja«, erklärte er schließlich. »Darauf hast du mein Wort. Ich werde sofort zurückkommen. Ein irdischer Tag ist hier oben im Himmel nur ein Herzschlag.«

      »Rachel?«

      Rachel blinzelte und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf Raphael.

      »Ich werde alles tun, um Uriel zu überzeugen zurückzukommen. Das verspreche ich.«

      Einen Moment lang herrschte Stille, als er den Raum verlassen hatte. Gabrielle stand neben ihr und starrte auf die geschlossene Tür.

      »Sie werden nicht zurückkommen, oder?«, krächzte Rachel.

      Langsam drehte sich Gabrielle zu Rachel um. Über ihr sanftes Gesicht legte sich eine Maske der Gleichgültigkeit. In der ganzen Zeit, seit der Rachel sie kannte, hatte Gabrielle noch nie ausgesehen, wie sie es in diesem Moment tat. Ihre zuvor lebhaften grünen Augen schienen jetzt leer zu sein.

      »Nein, das werden sie nicht.«

      6

      Raphael lehnte sich gegen den Türrahmen und sah zu, wie Rebecca ihren vierjährigen Sohn Jeremiel ins Bett brachte. Es war ein Ritual, das er seit der Geburt seines Sohnes jeden Abend genoss. In Momenten wie diesen, wenn die Sonne tief am Himmel stand und es zu dämmern begann und die Schatten um sie herum schützend näher zu rücken schienen, wurde ihm bewusst, was für ein Glück er hatte, weil er sie beide hatte. Niemals, auch in seinen wildesten Träumen nicht, hätte er geglaubt, dass er so glücklich sein könnte.

      »Erzähl mir mehr.« Jeremiels rosa Lippen verzogen sich zu einem weiten »O«, als er gähnte. Saphirblaue Augen sahen unter geschwungenen Wimpern hervor, als er sich bemühte, sie offenzuhalten.

      Er sah zu, wie seine Frau, Rebecca, ihrem Sohn das dichte, blonde Haar glattstrich. Seine Frau. Selbst nach vier Jahren des Zusammenlebens mit ihr erschauerte er noch vor Aufregung bei dem Gedanken daran, dass er jemanden so innig lieben konnte. So sehr, dass er, als er vor all diesen Jahren auf die Erde gekommen war, es nicht fertiggebracht hatte, sie zum zweiten Mal zu verlassen. Er hatte sie kennengelernt und kannte die Reinheit und Unschuld in ihrem Herzen. Sie war wunderschön. Nicht nur die feinen Züge ihres makellosen Gesichts, sondern ihr Herz und ihre Seele – sie kannten nichts Böses. Die Vorstellung, dass Baka sie hätte nehmen und besitzen können war undenkbar.

      Auf dem Tisch begann eine Kerze in der zunehmenden Dunkelheit zu flackern und ließ Schatten über Jeremiels Engelsgesicht tanzen. Als Rebecca die Gewissheit gehabt hatte, dass sie schwanger war, hatten sie beide sich Sorgen darüber gemacht, was für ein Kind sie zur Welt bringen würde. Raphael war besorgt gewesen, dass die Folgen seines Ungehorsams ihn einholen würden und das Kind darunter zu leiden hätte. Obwohl Rebecca nie ein Wort darüber verlor, wusste er, dass auch sie sich sorgte. Als ihm dann ein winziges Bündel in die Arme gelegt worden war, hatte er vor Freude über die Vollkommenheit, die er in den Armen hielt, geweint.

      »Das reicht für heute, Jeremiel, sagte sie und fuhr mit einem Finger über seine runde Wange.

      »Ich will noch mehr hören, Mutter.«

      »Du hast die Geschichte doch schon hundertmal gehört.« Sie stopfte ein Laken unter seinem Kinn fest. Es handelte sich um eine Geschichte, die Raphael sie ihrem Sohn dutzende Male hatte erzählen hören. Es ging darum, wie sie einander zum ersten Mal begegnet waren, oder, wie sie es zu nennen pflegte, »Wie ich der Liebe meines Lebens begegnet bin«, und darum, wie er eine Zeit lang verschwunden war und dann ihretwegen zurückgekommen war. Das war für gewöhnlich sein Schlüsselwort, hereinzuplatzen und zu sagen: »Und ich überzeugte deine Mutter davon, mich zu heiraten.« Dann fügte Jeremiel stets hinzu: »Damit ihr mich kriegen konntet.«

      Es war ein allabendliches Ritual, von dem er nie genug bekam.

      »Einmal noch?« Jeremiels Stimme war kaum lauter als ein Flüstern und ihm sank der Kopf auf die Brust. »Bitte.«

      »Morgen Abend, mein Sohn. Wir haben einen Gast, um den wir uns kümmern müssen.« Rebecca sprach mit leiser, melodischer Stimme.

      »Onkel Luzifer?«

      Raphael sah, wie sich ihr Gesicht beim Klang des Namens seines alten Freundes anspannte. Über die Jahre hatte Luzifer sie von Zeit zu Zeit besucht. Er hatte immer gemischte Gefühle darüber, ihn zu Besuch zu haben, zumal er das Gefühl hatte, dass er Luzifer etwas schuldete. Ohne ihn hätte er nie den den Mut besessen, zurückzukehren. Vermutlich würde er immer noch heimlich Blicke von der Brücke werfen und leiden, während er dabei zusähe, wie Rebecca Bakas Sohn gebar. Ohne ihn hätte Jeremiel nie existiert und allein deshalb schon empfand er Luzifer gegenüber ein Gefühl der Verpflichtung.

      Gleichzeitig nagte Schuldbewusstsein an seinem Gewissen wegen der Versprechen, die er gemacht und gebrochen hatte. Wenn er mit seiner Familie allein war, brachte er es fast fertig zu vergessen, dass er ein gefallener Erzengel war. Dann kam Luzifer wieder nach Ai und er wurde erneut mit der Realität dessen konfrontiert, was er getan hatte. Dankenswerterweise reiste sein Freund viel. Was er dabei tat… Raphael zog es vor, nicht einmal daran zu denken.

      Gelegentlich begleitete Uriel Luzifer auf seinem Besuchen bei ihm und seiner Familie. Die Last des Versprechens, das er Rachel gegeben hatte, lag schwer auf seinem Herzen – umso mehr, wenn er daran dachte, dass er sein Glück gegen ihren Schmerz eingetauscht hatte.

      Luzifer schien seine traurige Stimmung immer zu erahnen und tat, was er konnte, um ihn davon zu überzeugen, dass das, was er getan hatte, nicht schlimm war. Er wusste nichts von dem Versprechen, das Raphael Rachel gegeben hatte.

      Luzifers Worte trösteten ihn einigermaßen, besonders, als er ihm sagte, dass er Rebeccas Leben besser gemacht hatte, als er sie geheiratet hatte. Dass er es aus Liebe getan hatte. Obwohl Luzifer selbst darauf hinwies, dass er sich nicht um Menschen sorgen würde, wie Raphael es tat, war es doch zumindest in Raphaels Herzen aus Liebe gewesen. Wie konnte das eine Sünde sein?

      Raphael war beinahe von Luzifers Argumenten überzeugt gewesen, bis Rebecca begann, sich in Luzifers Gegenwart merkwürdig zu verhalten. Anfangs war Rebecca ihm gegenüber eine zuvorkommende Gastgeberin gewesen. Dann hatte sich etwas verändert, besonders, nachdem Jeremiel zur Welt gekommen war. Raphael konnte spüren, dass sie sich in Luzifers Anwesenheit nicht wohlfühlte. Er versuchte, sie diesbezüglich zum Sprechen zu bewegen, aber sie mied das Thema stets.

      »Ja – dein Vater wird heute mit ihm abendessen«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln im Gesicht.

      »Ich will Onkel Luzifer sehen.« Jeremiel gähnte erneut.

      »Hat da jemand meinen Namen genannt?«

      Raphael fühlte, wie ihm eine kalte Hand auf die Schulter schlug. »Ich hoffe, es macht euch nichts aus«, sagte Luzifer und trat an Raphael vorbei. »Ich wollte dem Jungen gute Nacht sagen.

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