Vor Dem Fall. L. G. Castillo
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»Halt still, Ethan«, sagte er und strich mit einer Hand über Ethans Arm.
»Was machst du da?«, fragte Raguel in überraschtem Flüsterton.
»Ich heile ihn.«
»Das verstößt gegen Michaels Anordnungen!«
Raphael hielt inne und sah zu Raguel auf. Sie hatte recht. So gern er Ethan auch helfen wollte, er würde bei Raguels erstem Auftrag kein gutes Beispiel abgeben.
Er seufzte und ließ die Hand sinken. »Ja. Wir sind hier, um Trost zu spenden und Worte des Glaubens zu den Menschen hier zu bringen.« Er tätschelte Ethans Arm.
»Ich bin mir nicht sicher, wie.« Ihr Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck angenommen.
Raphael sah sich um und sah die Menschen vor den umliegenden Zelten. Sein Blick fiel auf einen alten Mann, dessen Haut vom nachlassenden Licht der Sonne beschienen wurde. Neben ihm befand sich ein Wasserschlauch aus Ziegenleder. »Dort drüben.« Er deutete auf den alten Mann. »Biete ihm an, ihm etwas Wasser vom Bach zu holen. Der Schlauch sieht leer aus.«
Raphael sah Raguel interessiert zu. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er mit einem Menschen in Kontakt gekommen war. Sie hatten so viele Empfindungen, Leidenschaften, die oft ins Extrem gehen konnten: Glück, Kummer, Wut, Liebe. Sie waren erfüllt vom Strahlen einer Energie, die tief in ihrer Seele ruhte. Engel unterschieden sich nicht so sehr von Menschen. Aber er hatte das Gefühl, dass die Engel ihre Empfindungen in Schach hielten. Es schien fast, als hätten sie Angst, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und nicht ganz vollkommen zu erscheinen.
Als er zum ersten Mal einen Menschen berührt hatte, hatte er sofort eine Verbindung gespürt. In diesem Augenblick war ihm auch klargeworden, dass Menschen ihn für ein göttliches Wesen hielten. Das Interessante daran war, dass er ihnen gegenüber dasselbe empfunden hatte. Er sehnte sich danach, anderen von seiner Erfahrung zu erzählen. Er war sich nicht sicher, ob die anderen Engel es verstehen würden. Selbst sein guter Freund Luzifer hielt es für Unsinn und riet ihm davon ab, den anderen Engeln davon zu erzählen.
»Guter Mann«, hörte Raphael Raguel zu dem alten Mann sagen. »Ich werde dir Wasser vom Bach holen.«
Der Alte hob den Kopf. Seine Lippen begannen zu zittern, als sich sein Blick auf Raguel richtete. »Rachel?«
Raguel sah verwirrt zu Raphael hinüber.
Er zuckte mit den Schultern.
»Mein Name ist Raguel«, wandte sie sich an den alten Mann.
»Du siehst aus wie Rachel.«
»Wer ist Rachel?«
»Es ist der Name meiner Tochter. Ich habe dich für sie gehalten. Ich dachte, der Herr hätte meine Gebete erhört und sie zu mir zurückgeschickt. Sie war zu jung, um von mir genommen zu werden.« Seine Hand zitterte, als er sie nach ihr ausstreckte.
»Du siehst genauso aus wie sie, so wunderschön.« Er hielt inne, bevor seine Hand ihre Wange erreichte und zog sie zurück. »Genauso wie sie.«
Rachel kniete sich vor ihm hin. »Was ist deiner Tochter zugestoßen?«
»Sie haben mich verfolgt, als ich mit Lepra geschlagen wurde. Die Soldaten befahlen mir, zu verschwinden und ich war bereit zu gehen. Ich habe mein Leben gelebt. Aber Rachel – sie wollte mich nicht gehen lassen. Sie flehte die Soldaten an, mich zu verschonen und als sie es nicht taten, hielt sie einen der Soldaten fest und er… er hat sie mit seinem Schwert erschlagen.«
Raphael hörte, wie sie ein leises Schluchzen ausstieß. Er beobachtete sie, als sie ihre Hand dem alten Mann entgegenstreckte. Sie hielt inne und warf Raphael einen Blick zu.
Er nickte ermutigend. »Nur zu«, flüsterte er.
Sie schluckte und legte ihre makellose Hand auf seine faltige.
Raphael lächelte angesichts ihres Gesichtsausdrucks und wusste, dass sie es fühlte – die bedingungslose Liebe zu Seinem herrlichsten Geschöpf. Wie konnte man es nicht spüren? Er wusste, wenn die anderen Engel nur erst Kontakt mit Menschen hätten, wären sie in der Lage zu spüren, was er gefühlt hatte. Vielleicht war es das, was Luzifer brauchte. Wenn er unter ihnen wandelte und sie kennenlernte, wäre er sicher in der Lage, Liebe zu ihnen zu entwickeln. Vielleicht würde er nach seiner Rückkehr mit Michael darüber sprechen.
»Du erinnerst mich an sie«, fuhr der alte Mann fort. »Ragu – was hast du gesagt, wie war dein Name?«
»Du kannst mich Rachel nennen. Es wäre mir eine Ehre, den Namen einer so furchtlosen Frau zu tragen, wie deine Tochter es war.« Sie warf Raphael einen Blick zu. »Von jetzt an bin ich Rachel.«
Er nickte ihr zu. Es überraschte ihn nicht, dass Raguel… Rachel dazu bereit war, so etwas zu tun. Sie liebte innig. Sie war ein junger Engel und in vielerlei Hinsicht unerfahren, wenn es darum ging wie Himmel und Erde funktionierten. Sie war das Gegenteil von Uriel, der nur an sich selbst dachte. Wenn Uriel wüsste, wie sehr er ihr am Herzen lag, könnte ihr das gefährlich werden. Raphael hoffte um Rachels willen, dass Uriel nie von ihren Gefühlen für ihn erfuhr.
»Also, Ethan. Wie sieht es aus mit der Geschichte?« Er wollte gerade beginnen, als er in einiger Entfernung den Lärm wütender Stimmen vernahm. Er sah in die Richtung, in der Ai lag und sah eine Schar von Leuten in der Nähe des Stadttors, die in ihre Richtung marschierten.
Raphael erhob sich und nahm Ethan auf den Arm. Der Mob, der sich ihnen näherte, schien aus Männern der Stadt zu bestehen. Die meisten von ihnen trugen bunte Umhänge über ihren Gewändern – etwas, das sich nur die Reichen leisten konnten. Er nutzte seine Gabe des verbesserten Sehvermögens und konnte die Angst hinter der Wut in ihren Blicken erkennen. Es war verständlich, dass sie Angst hatten, dass sich die Krankheit in der Stadt ausbreiten könnte. Genau diese Angst war es, die auch den gottesfürchtigsten aller Männer gegen seinen Bruder wenden konnte.
Raphael sah zu den Menschen der Zeltgemeinschaft. Sie waren schon einmal aus ihrem Zuhause vertrieben worden. Wohin sonst sollten sie sich wenden?
Wenn man ihre Ängste zerstreuen konnte, war er sich sicher, dass die Menschen in Ai ihre Mitbürger wieder bei sich willkommen heißen würden. Alles, was er tun musste, war, sie zu beruhigen. Er traute sich zu, dass er das schaffen konnte. Er musste nur mit ihnen sprechen.
Dann fiel ihm mitten im Mob ein Schimmern auf – dann ein weiteres, und noch eines.
Die Menge teilte sich und machte den Soldaten Platz, deren Schwerter im Licht der Sonne glänzten. Raphael sank der Mut. Er wusste, dass die Soldaten der Vernunft kein Gehör schenken würden.
Er setzte Ethan ab. »Lauf in dein Zelt, Kleiner«, trug er ihm auf. »Bleib drinnen. Deine Mutter wird gleich zu dir kommen.« Dann, als Ethan im Zelt verschwunden war, rief er: »Miriam, komm schnell!«
»Was ist los?« Miriam wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.
»Geh zu Ethan. Kommt nicht heraus, bis ich euch sage, dass es sicher ist.«
»Warum? Was ist – «
Miriams Hand flog an ihren Hals und ihre Augen weiteten sich. »Nein«, keuchte