Die große Pause. Bastian Bielendorfer

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Die große Pause - Bastian Bielendorfer

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vielleicht war es doch gar nicht so anders wie heute, wenn man sich die leeren Bürgersteige ansieht, die an mir vorbeiziehen. Selbst vor dem Hauptbahnhof, an dem sich sonst Ankommende und Weggehende in einem Gewirr aus Stimmen und Sprachen überschlagen, stehen Dutzende freie Taxen. Die Fahrer sitzen auf den Motorhauben und unterhalten sich wild gestikulierend.

      Selbst die Bettler vor dem Hauptbahnhof, die sonst auf jeden Fahrgast wie magnetisch angezogen zuströmen, halten Abstand. Nur einer schaut mich müde an. Ich gebe ihm etwas Geld und bekomme ein Lächeln geschenkt.

      Ich glaube, selbst in der seltsam toten Zeit zwischen 3 und 5 Uhr morgens, in der bundesweit keine Züge fahren, ist der Bahnhof nicht so leer wie heute.

      Ein ausgetrockneter Knotenpunkt, in dem die Verkäufer der zahlreichen Imbissbuden einsam vor ihren Brötchenregalen und Fritteusen stehen. Die wenigen Reisenden flüchten in die offenen Türen der Züge wie Ameisen in ihre Löcher.

      Ich kaufe mir ein belegtes Brötchen. Die Verkäuferin legt das Wechselgeld nicht in meine ausgestreckte Hand, sondern auf den Tresen.

      Könnte auch nur die klassische, berlinerische Unhöflichkeit sein. Die Frau schaut aber eher mitleidig als böse.

      Als ich den Zug nach Köln besteige und Berlin verlasse, habe ich das seltsame Gefühl, für lange Zeit nicht mehr zurückzukehren.

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      KATASTROPHE IN KORNBLUMENBLAU

      Heute war zur Abwechslung mal Silvester-Feeling. Nicht im dem Sinne, dass sich im Vorgarten jemand mit einem Polenböller die Finger wegsprengt, sondern weil die Kanzlerin zu uns spricht. Das passiert sonst nur zum Jahreswechsel.

      Angela. In allen Wohnzimmern. So auch in unserem.

      Schwiegermutter und Frau sitzen am Esstisch und rühren noch in den Resten des Abendessens herum, das ich aufgrund mangelnder Übung massiv verkocht habe.

      Merkel findet deutliche Worte für das, was uns seit nunmehr fast zehn Tagen mehr und mehr verunsichert. Sie ist dabei menschlich, ermahnend, besonnen und nicht belehrend. Selbst als Nicht-CDU Wähler muss man zugeben, dass Merkels Ansage sitzt. Ihr „Es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst“ bedeutet nichts anderes als ein verklausuliertes „So, ihr Kackstrümpfe, wenn ihr nicht vernünftig seid und schön Abstand zueinander haltet, dann machen wir die Hütte dicht, verstanden?“.

      Anders als bei der Neujahrsansprache, der man wegen Raclette und Dinner for One eher weniger aufmerksam folgt, entscheidet bei dieser Rede jedes Wort darüber, wie die nächsten Wochen in Bundesdeutschland aussehen werden.

      Die Schreckensmeldungen aus Italien, wo sich offenbar Hunderte in einem Fußballstadion angesteckt und das Virus in der gesamten Lombardei verbreitet haben, verfehlen ihre Wirkung nicht. Mit einem mulmigen Gefühl denke ich daran, dass ich vor fast 500 Menschen in Berlin aufgetreten wäre, wenn ich nicht kurz zuvor die Reißleine gezogen hätte.

      Binnen weniger Tage sind wir alle unfreiwillig Akteure in einem Katastrophenfilm geworden, nur dass das wahre Leben wie immer weniger schillernd ist als ein Hollywood-Film. Da steht kein Independence Day Bill Pullmann als Präsident vor einem Hangar mit Kampfflugzeugen und sagt den Aliens den Kampf an, sondern da sitzt unsere Kanzlerin in Kornblumenblau und spricht mit nach unten gezogenen Mundwinkeln sachlich von einer sehr viel irdischeren, aber umso unheimlicheren Bedrohung.

      Jedes Mal, wenn ich mich davon überzeugen will, dass das Aussterben der Menschheit zwar eine persönliche, aber keine kosmische Katastrophe wäre, gehe ich auf die Facebook-Seite der Bild-Zeitung. Über 400 000 Leute verfolgen die Pressekonferenz von Angela Merkel nicht im Fernsehen, sondern über den Facebook-Kanal ihrer Lieblingszeitung und posten dort im Millisekundentakt Kommentare, die so irre sind, dass es fast Satire sein könnte.

      „Jetzt lügt sie wieder“, „Merkel muss weg“ und „Fake News, ihr seid alles Schafe“ sind noch die nettesten Ergebnisse, die man bekommt, wenn man die digitale Reuse in die Klärgrube des Bild-Publikums wirft.

      Eine schnelle Recherche meinerseits ergibt, dass ein großer Teil der Kommentatoren laut Facebook zur „Schule des Lebens“ oder nach „Hogwarts“ gegangen ist und als Profilfoto entweder ein Motorrad, einen breitschultrigen Hund oder eine Reichsfahne haben. Manche sogar einen breitschultrigen Hund auf einem Motorrad mit Reichsfahne.

      Nach der Rede zeigen die Tagesthemen einen Beitrag über Demonstranten, die sich in Berlin versammelt haben und schon mal vorsorglich gegen die vermeintlichen Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung demonstrieren.

      Eine Frau hält ein Schild hoch „In der Deutschland GmbH gibt es keine Meinungsfreiheit“. Sie schreit in die Kamera: „Uns wird hier das Maul verboten!“

      Die Ironie der Situation scheint ihr zu entgehen: Bei einer öffentlichen Demo ruft sie in die Kamera des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dass ihr der Staat keine Meinungsfreiheit zubilligt, und merkt selbst nicht, wie absurd widersprüchlich das ist.

      „Ich würde gerne morgen noch mal bummeln gehen, bevor das am Ende nicht mehr möglich ist. Angeblich haben die Läden in Einkaufszentren noch auf. Kommst du mit?“, sagt Nadja und schaut mich auffordernd an.

      Aus irgendeinem Grund schöpft meine Frau Befriedigung daraus, wenn ich sie beim Shoppen begleite und dann die ganze Zeit genervt wie ein bockiges Kind auf mein Handy starre.

      Manchmal habe ich den Verdacht, dass meine Frau aus meinem Leid ihre Energie zieht.

      „O bitte, nein!“

      „Doch. Mama hat auch gesagt, sie hat so schöne Westen bei Bonita gesehen. Außerdem brauchst du noch eine Übergangsjacke!“

      Schwiegermutter nickt.

      „Keine Widerrede, morgen wird geshoppt!“, sagt Nadja und drückt mir die Hand auf den Mund.

      Freie Meinungsäußerung existiert. Nur nicht in rechtsfreien Räumen wie der Ehe.

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      HOME-OFFICE-HEINI

      Im Fernsehen verkündet der Polit-Elvis Markus Söder die erste Ausgangssperre für ein Bundesland: Bayern. Man darf nur noch zum Einkaufen und zum Joggen vor die Tür und keine Leute mehr treffen. Für mich persönlich ist das kein großer Einschnitt, denn nach Bayern hat es mich Pottkind nie wirklich gezogen: Auf den Hausfassaden findet sich kein Ruß der Vergangenheit, und die Leute pflegen einen viel zu höflichen Umgang miteinander. Fast unerträglich. Außerdem gibt es dort für meinen Geschmack zu wenig Zechenwege und Opas mit Bierflaschen in der Hand, die sich an kleinen, windschiefen Kiosken Bratheringe aus einem braunsuppigen Glas fischen.

      Für alle anderen Bundesländer gilt weiterhin, dass man sich draußen aufhalten darf, um dann in kunstvollem Distanz-Pilates andere Fußgänger zu umtanzen oder hustenden Spaziergängern auszuweichen. Als wäre die Welt eine überdimensionale PacMan-Version, in der wir nicht wissen, wie viele Extraleben wir noch haben.

      Ich koche in Unterhose Ingwertee und schaue aus meinem Küchenfenster auf Köln hinaus, das ebenso verbaut und hässlich daliegt wie immer.

      Leider haben

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