Formen der Verstörung. Lydia Davis

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Formen der Verstörung - Lydia  Davis

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Stück des Wegs mit mir gegangen war, dann waren wir beide verloren. Es gab so viele Missverständnisse, selbst wenn ich bei der Sache blieb. Und doch hätte sie nicht befürchten müssen, dass ich wütend auf sie sei, sondern im Gegenteil: dass ich es nicht war.

      Sie dachte, ich hätte eine Tante Klara. Es stimmt, ich habe eine Tante Klara, natürlich hat jeder Jude eine Tante Klara, aber die meine ist schon lange tot. Sie sagte, die ihre sei etwas merkwürdig und neige dazu, Erklärungen abzugeben, zum Beispiel, dass man seine Briefe richtig frankieren und nichts zum Fenster hinauswerfen soll, lauter unanfechtbare Dinge, aber nicht einfach. Wir sprachen über die Deutschen. Sie hasst die Deutschen so sehr, aber ich sagte ihr, die Deutschen sollte sie nicht gar so sehr hassen, die Deutschen sind wunderbar. Vielleicht war es – heilige Eitelkeit! – ein Fehler, damit zu prahlen, ich hätte unlängst eine Stunde und mehr Holz gehackt. Ich fand, sie sollte mir dankbar sein – immerhin widerstand ich der Versuchung, etwas Unfreundliches zu sagen.

      Noch ein Missverständnis, und sie würde aufstehen und gehen. Wir versuchten auf jede mögliche Art und Weise zu sagen, was wir dachten, aber in diesem Augenblick waren wir ja keine Liebenden, sondern bloß Grammatiker. Selbst Tiere lassen alle Vorsicht fahren, wenn sie miteinander streiten: Eichhörnchen rennen wie verrückt über eine Wiese oder Straße und zurück und vergessen ganz, dass Raubtiere in der Nähe sein könnten, die sie beobachten. Ich erklärte ihr, das Einzige, was mir daran gefiele, wenn sie wieder gehen sollte, wäre der Abschiedskuss. Sie versicherte mir, dass es, obwohl wir im Zorn auseinandergingen, bis zum nächsten Wiedersehen nicht lange hin sein würde, aber für mich in meinem Kopf bedeutete ›bald‹ anstatt ›nie mehr‹ trotzdem nur ›nie mehr‹. Dann ging sie.

      Durch diesen Verlust war ich sogar noch mehr Robinson als Robinson selbst – er hatte wenigstens noch die Insel und Freitag, seine Vorräte, seine Ziegen, das Schiff, das ihn holte, seinen Namen. Aber was mich anging, so stellte ich mir vor, von einem Chefarzt zwischen die Knie genommen zu werden und an den Fleischklumpen zu würgen, die er mir mit den Karbolfingern in den Mund stopft und dann entlang der Gurgel hinunterdrückt.

      Der Abend war vorbei. Eine Göttin ging aus dem Kino, und ein kleiner Gepäckträger stand verlassen auf dem Perron – und das sollte unser Abendessen gewesen sein? Schmutzig bin ich – darum mache ich ein solches Geschrei um Reinheit. Niemand singt so rein, als die, welche in der tiefsten Hölle sind – was wir für den Gesang der Engel halten, ist ihr Gesang. Trotzdem entschloss ich mich, noch eine Weile weiter zu leben, wenigstens noch diese Nacht.

      Letztlich bin ich nicht elegant. Jemand hat einmal gesagt, dass ich wie ein Schwan schwimme, aber das war kein Kompliment.

      Tropischer Sturm

      Wie ein tropischer Sturm

      werde auch ich eines Tages vielleicht »besser organisiert« sein.

      Gute Zeiten

      Was ihnen widerfuhr, das war, dass jede schlechte Zeit ein schlechtes Gefühl mit sich brachte, das seinerseits mehrere schlechte Zeiten mit sich brachte und mehrere schlechte Gefühle, so dass sich in ihrem Zusammenleben schlechte Zeiten und schlechte Gefühle drängten, so sehr drängten, dass auf diesem dunklen Acker fast nichts anderes mehr wachsen konnte. Aber dann hatte sie eines Morgens ein Gefühl des Friedens, das sich noch vom vergangenen Abend gehalten hatte, den sie mit Nähen zugebracht hatte, während er lesend im Zimmer nebenan gesessen war. Und ein oder zwei Tage danach hatte sie ein Gefühl von Zufriedenheit, das sich am Morgen noch vom Abend davor gehalten hatte, als er ihr in der Küche beim Abwaschen des Geschirrs Gesellschaft geleistet hatte. Wenn die Zahl der guten Zeiten zunahm, dachte sie, dann konnte jede gute Zeit ein gutes Gefühl mit sich bringen, das seinerseits mehrere gute Zeiten mit sich bringen würde, und diese würden mehrere gute Gefühle mit sich bringen. Sie meinte damit, dass sich die guten Zeiten vielleicht so rasant multiplizieren würden wie das Quadrat zum Quadrat oder vielleicht noch rasanter, wie Mäuse oder wie Pilze, die über Nacht von den auseinanderstiebenden Sporen eines Mutterpilzes aus dem Boden schossen, der seinerseits zusammen mit einer Gruppe anderer aus den auseinanderstiebenden Sporen eines Mutterpilzes aus dem Boden schoss – bis ihr Leben mit ihm so gedrängt voll von guten Zeiten wäre, dass die vielen guten Zeiten vielleicht die schlechten verdrängen würden, wie die schlechten Zeiten die guten Zeiten bis zur Stunde beinah verdrängt hatten.

      Idee für einen kurzen Dokumentarfilm

      Vertreter verschiedener Nahrungsmittelfirmen versuchen ihre eigenen Verpackungen zu öffnen.

      Tabuthemen

      Bald wird beinahe jedes Thema, über das sie vielleicht reden wollten, mit einer weiteren unerfreulichen Szene in Verbindung gebracht und wird zu einem Thema, über das sie nicht reden können, so dass es im Lauf der Zeit immer weniger gibt, worüber sie gefahrlos reden können, so dass zum Schluss kaum noch etwas übrig ist außer den Nachrichten und dem, was sie gerade lesen, wenn auch nicht alles, was sie gerade lesen. Sie können auch nicht über verschiedene Mitglieder ihrer Familiereden, seine Arbeitszeiten, ihre Arbeitszeiten, Hasen, Mäuse, Hunde, bestimmte Lebensmittel, bestimmte Universitäten, heißes Wetter, heiße und kalte Raumtemperaturen während der Tages- und der Nachtzeit, das Einschalten und das Ausschalten des Lichts an Sommerabenden, das Klavier, Musik im Allgemeinen, wie viel Geld er verdient, wie viel sie verdient, wie viel sie ausgibt etc. Aber eines Tages, als sie über ein Tabuthema geredet hatten, wenn auch nicht über das gefährlichste aller Tabuthemen, begreift sie, dass es, manchmal, möglich sein könnte, ruhig und bedachtsam über ein Tabuthema zu reden, so dass es eines Tages vielleicht wieder ein Thema werden konnte, über das man reden konnte, um dann ruhig und bedachtsam etwas über ein anderes Tabuthema zu sagen, so dass es ein weiteres Thema gibt, über das man wieder wird reden können, und dass es, sobald es mehr themen gibt, über die man wieder reden kann, schrittweise mehr Gespräche zwischen ihnen geben wird und dass das Vertrauen wachsen wird, sobald es mehr Gespräche gibt, und dass sie es, sobald genügend Vertrauen da wäre, wagen könnten, sich selbst die gefährlichsten Tabuthemen vorzunehmen.

      Zwei Typen

      Begeisterungsfähig

      Eine Frau war mehrere Tage lang deprimiert und verzweifelt, nachdem sie ihren Kugelschreiber verloren hatte.

      Dann geriet sie wegen eines Inserats über einen Schuhausverkauf so sehr aus dem Häuschen, dass sie eine dreistündige Fahrt zu einem Schuhgeschäft in Chicago unternahm.

      Phlegmatisch

      Ein Mann entdeckte eines Abends ein Feuer in einem Studentenheim und ging weg, um in einem anderen Gebäude nach einem Feuerlöscher zu suchen. Er fand den Feuerlöscher und ging damit zurück zum Feuer.

      Die Sinne

      Viele Leute behandeln ihre fünf Sinne mit einem gewissen Respekt und mit Bedacht. Sie nehmen ihre Augen in ein Museum mit, ihre Nase zu einer Blumenausstellung, ihre Hände in ein Stoffgeschäft für Samt und Seide; sie überraschen ihre Ohren mit einem Konzert und begeistern ihren Mund mit einem Essen im Restaurant.

      Aber die meisten Leute lassen ihre Sinne Tag für Tag schwer für sich arbeiten: Lies mir diese Zeitung vor! Pass auf, Nase, falls das Essen anbrennt! Ohren, tut euch jetzt zusammen und horcht, ob es an der Türe klopft!

      Ihre

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