Formen der Verstörung. Lydia Davis

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Formen der Verstörung - Lydia  Davis

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Sinne ermüden. Manchmal – lange vor dem Ende – sagen sie, ich gebe auf – ich mach mich aus dem Staub, jetzt. Und dann ist der Betroffene weniger imstande, sich der Welt zu stellen, und bleibt mehr zuhause und hat so manches nicht, was er braucht, wenn er weitermachen soll.

      Wenn ihn alles im Stich lässt, ist er wirklich einsam: im Dunkel, in der Stille, mit tauben Händen, mit nichts im Mund, nichts in der Nase. Er fragt sich: Hab ich sie falsch behandelt? Haben sie’s nicht gut gehabt bei mir?

      Fragen der Grammatik

      Also: Kann ich, während er gerade stirbt, sagen: »Er lebt hier«?

      Wenn mich jemand fragt: »Wo lebt er?« – soll ich dann antworten: »Nun, im Augenblick lebt er nicht, er ist gerade dabei zu sterben«?

      Wenn mich jemand fragt: »Wo lebt er?« – kann ich dann sagen: »Er lebt im Pflegeheim Vernon Hall«? Oder sollte ich vielmehr sagen: »Er stirbt gerade im Pflegeheim Vernon Hall«?

      Wenn er tot ist, dann werde ich, die Vergangenheitsform verwendend, sagen können: »Er hat im Pflegeheim Vernon Hall gelebt.« Und ich werde auch sagen können: »Er ist im Pflegeheim Vernon Hall gestorben.«

      Wenn er tot ist, wird alles, was ihn betrifft, die Vergangenheitsform haben. Das heißt, der Satz »Er ist tot« wird in der Gegenwart stehen, und auch Fragen wie: »Wohin bringen sie ihn?« oder: »Wo ist er jetzt?«

      Dann aber wüsste ich nicht, ob die Verwendung der Worte er und ihn im Präsens korrekt ist. Ist er, wenn er einmal tot ist, noch immer er, und, wenn ja, wie lange ist er dann noch er?

      Die Leute reden vielleicht von »der Leiche« und sagen dann »sie« zu ihr. Von »der Leiche« werde ich ihn betreffend nicht sprechen können, weil er für mich noch nicht etwas ist, was man als »die Leiche« bezeichnen würde.

      Manche Leute sagen vielleicht »seine Leiche«, aber auch das scheint nicht korrekt. Es ist nicht »seine« Leiche, weil er sie nicht besitzt, wenn er nicht mehr aktiv und damit nicht imstande ist, etwas zu besitzen.

      Ich weiß nicht, ob es einen »er« gibt, auch wenn die Leute sagen: »Er ist tot.« Es scheint aber korrekt zu sagen: »Er ist tot.« Das ist vielleicht das letzte Mal, dass er noch im Präsens »er« ist. Andererseits: Das letzte Mal ist es nicht, denn ich sage auch: »Er liegt im Sarg.« Ich werde ebenso wenig wie sonst jemand sagen: »Sie liegt im Sarg«, oder: »Die Leiche liegt in ihrem Sarg.«

      Ich werde, wenn er gestorben ist, weiterhin von ihm als von »meinem Vater« reden. Aber tu ich das nur, wenn ich in der Vergangenheitsform spreche, oder tu ich das auch im Präsens?

      Er kommt in eine Büchse, nicht in einen Sarg. Und wenn er in dieser Büchse ist, sage ich dann: »Das, in der Büchse – das ist mein Vater«, oder: »Das, in der Büchse, das war mein Vater«, oder sage ich dann: »In dieser Büchse da – das war mein Vater«?

      Ich werde immer noch von »meinem Vater« sprechen, aber vielleicht werde ich es nur tun, solange er wie mein Vater aussieht, oder annähernd wie mein Vater. Werde ich, wenn er die Form von Asche angenommen hat, auf die Asche zeigen und sagen: »Das ist mein Vater«? Oder werde ich sagen: »Das war mein Vater«? Oder aber: »Die Asche da – das war mein Vater«? Oder: »Diese Asche da ist das, was einmal mein Vater war«?

      Wenn ich später auf den Friedhof gehe, werde ich dann hinzeigen und sagen: »Hier liegt mein Vater«, oder werde ich sagen: »Hier liegt die Asche meines Vaters«? Aber die Asche wird nicht meinem Vater gehören, er wird sie nicht besitzen. Es wird »die Asche« sein, »die einmal mein Vater war«. In der Redewendung: »Er stirbt gerade« suggeriert das Wort »gerade« in Verbindung mit dem Präsens, dass er dabei ist, aktiv etwas zu tun. Er ist aber nicht aktiv, wenn er stirbt. Das einzige, was er noch aktiv tut, ist atmen. Es sieht aus, als atme er mit Absicht, weil er sich dabei so viel Mühe gibt und die Stirn leicht in Falten legt. Er gibt sich dabei viel Mühe, aber er hat zweifellos keine andere Wahl. Manchmal sind die Falten auf seiner Stirn momentlang tiefer, als ob ihm etwas weh täte oder als ob er sich stärker konzentrieren würde. Obwohl ich errate, dass er die Stirn wegen eines Schmerzes in seinem Körper oder einer sonstigen Veränderung runzelt, wirkt er verwirrt oder so, als würde ihm etwas nicht passen oder als würde er etwas missbilligen. Ich habe diesen Ausdruck auf seinem Gesicht in meinem Leben oft gesehen, allerdings nie zusammen mit diesen halb geöffneten Augen und dem offenen Mund.

      »Er stirbt gerade« klingt aktiver als »Er wird bald tot sein«. Wahrscheinlich liegt es an dem Wort sein – wir können etwas »sein«, ob wir uns dafür entscheiden oder nicht. Ob ihm das passt oder nicht – er wird bald tot »sein«. Er isst nicht.

      »Er isst nicht« klingt ebenfalls nach Aktivität. Aber es hat nichts mit seiner freien Entscheidung zu tun. Ihm ist nicht bewusst, dass er nicht isst. Nichts ist ihm bewusst. Aber: »Er isst nicht« klingt in seinem Fall korrekter als »stirbt gerade«, wegen der Verneinung. Dass er etwas »nicht tut«, scheint, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, sowieso korrekt, weil es so aussieht, als würde er etwas verweigern, weil er die Stirn runzelt.

      Hand

      Jenseits der Hand, die dieses Buch hält, das ich gerade lese, sehe ich eine andere Hand, die untätig da liegt, ein wenig außerhalb meines Fokus – meine Extra-Hand.

      Die Raupe

      Am Morgen finde ich eine kleine Raupe in meinem Bett. Es gibt kein passendes Fenster, um sie hinauszuwerfen, und ich zerquetsche oder töte kein Lebewesen, wenn es nicht sein muss. Ich werde mir die Mühe machen und diese dünne, dunkle, haarlose kleine Raupe die Treppen hinunter und in den Garten hinaus tragen.

      Es ist keine Spannerraupe, obwohl sie die Größe einer Spannerraupe hat. Sie macht keinen Buckel in der Mitte, sondern bewegt sich auf ihren vielen Beinpaaren ruhig dahin. Als ich aus dem Schlafzimmer gehe, eilt sie über die Hügel meiner Handfläche hinauf.

      Aber auf dem halbem Weg die Treppe hinunter ist sie verschwunden – Handfläche und Handrücken sind blank. Die Raupe muss losgelassen haben und hinuntergefallen sein. Ich kann sie nirgendwo entdecken. Im Treppenaufgang herrscht Halbdunkel, und die Treppen sind dunkelbraun gestrichen. Ich könnte eine Taschenlampe holen, um nach dem winzigen Ding zu suchen und sein Leben zu retten. Aber so weit gehe ich nicht – sie wird selbst tun müssen, was sie kann. Aber wie soll sie die Strecke die Treppe hinunter und in den Garten hinaus schaffen?

      Ich mache mit meiner Arbeit weiter. Ich glaube schon sie vergessen zu haben, habe ich aber nicht. Jedes Mal, wenn ich die Treppe hinauf oder hinunter gehe, vermeide ich ihre Treppenhälfte. Ich bin sicher, dass sie da ist und hinunterzukommen versucht.

      Schließlich gebe ich nach. Ich hole die Taschenlampe. Jetzt ist das Problem, dass die Stufen so schmutzig sind. Ich putze sie nicht, weil sie in diesem Dunkel keiner sieht. Und die Raupe ist – oder war – so klein. Vieles schaut im Schein der Taschenlampe aus wie sie – ein sehr dünner Holzsplitter oder ein dickes Stück Zwirn. Aber wenn ich sie anstupse, bewegen sie sich nicht.

      Ich kontrolliere jede Stufe auf ihrer Seite der Treppe genau, danach auch die andere Seite. Man entwickelt eine gewisse Anhänglichkeit gegenüber einem Lebewesen, wenn man einmal versucht hat, ihm zu helfen. Aber sie ist nirgendwo. Es liegt so viel Staub auf der Treppe und so viel Hundehaar. Der Staub klebt nun vielleicht an ihrem kleinen Körper und macht es beschwerlich für sie, sich fortzubewegen oder zumindest die Richtung einzuschlagen, die sie einschlagen

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